Vielleicht der Salat

Mir ist es richtig schlecht ergangen. Ich war schon vor meinem Unfall nicht wehleidig, nach meinem Unfall hat sich mein Empfinden für mein Befinden noch ein wenig verschoben. Bevor ich also auf die Idee komme, mir könnte es schlecht gehen, muss schon etwas mehr als ein eingerissener Fingernagel mich bedrücken.

Ich bin gestern abend ins Bett gegangen, da war alles völlig normal. Marie und ich haben jeweils eine Scheibe Brot zum Abend gegessen, einen Tee getrunken, haben uns irgendwann in unsere Betten gelegt – Feierabend. Kaum lag ich, wurde mir speiübel. So etwas hatte ich lange nicht. Ich rätselte, ob mit dem Essen etwas nicht in Ordnung gewesen sein könnte. Aber eigentlich war alles frisch. Ich setzte mich mehrfach im Bett hin, irgendwann setzte ich mich in meinen Stuhl und rollte zum Klo, weil ich ernsthaft befürchtete, ich müsste mich übergeben. Aber außer dass mir nach wie vor speiübel war, passierte nichts. Mein Magen fühlte sich aufgebläht an, wenn ich mit der Hand darüber strich. Nach dreißig Minuten vor dem Klo nahm ich mir eine Wärmflasche mit und verschwand wieder im Bett. Es dauerte nicht lange und ich bin eingeschlafen.

Um 4.30 Uhr war ich schlagartig hellwach. Die Übelkeit war vorbei, ich hatte bis eben gut geschlafen. Jetzt aber, ich lag auf der linken Seite, spielte mein Kreislauf verrückt. Mir war schwindelig, mein Puls raste und ich hatte Unterbauchschmerzen. So heftig, dass ich nicht wusste, wie ich liegen sollte. Einerseits war die aktuelle Lage unerträglich, andererseits war das Umdrehen auch unerträglich. Ich versuchte zu lokalisieren, woher die Schmerzen kamen. Mittig? Rechts? Eher rechts, aber irgendwie auch mittig. Vorne, unten. Aua. Ich legte die Wärmflasche, die noch lauwarm war, auf meinen Bauch. Das verschaffte
geringfügig Besserung. Ich verspürte Harndrang. War das die Blase, die solches Theater machte?

Nach zwei, drei Minuten wurden die Schmerzen etwas weniger. Ich setzte mich in den Stuhl, rollte zum Klo, setzte mich auf die Schüssel. Am besten gleich mal einen Teststreifen in den Strahl halten. Negativ. Kein Eiweiß, kein Blut – also eher nicht die Blase. Auf dem Klo ging das
wieder los. Einschießende, kolikartige Schmerzen, so heftig, dass meine
Beinmuskeln, die ich nicht willentlich ansteuern kann, sich krampfhaft verspannten und derart herumzappelten, dass ich beinahe vom Toilettenbecken gerutscht wäre. Ich musste mich mit den Händen festhalten und abstützen. Nicht witzig. Vielleicht sollte ich Marie mal wecken?

Nach ein paar Minuten war es wieder besser. Ich setzte mich in den Stuhl, rollte zu Marie. Sie schlief tief und fest, wurde aber wach, als ich bei ihr leise klopfte und vorsichtig die Zimmertür öffnete. „Tschuldigung, Marie, kannst du mir bitte helfen? Mir geht es gerade tierisch dreckig. Ich habe ganz heftige Unterbauchschmerzen.“ – Sie richtete sich im Bett auf, machte Licht an. Blinzelte mich an. Sagte: „Ach du Scheiße. Du siehst ganz übel aus. Weißt du, was es ist?“

Ich schüttelte den Kopf. Sie sagte: „Leg dich mal in dein Bett, ich komme rüber.“ – Ich packte mich ins Bett. Ich erzählte ihr, dass ich einen Urintest gemacht habe, der aber unauffällig war. Dass mich vor dem
Einschlafen Übelkeit geplagt hatte. Kaum lag ich wieder richtig, ging das wieder los. Schmerzen! Unglaublich. Ich wusste nicht, wie ich liegen
sollte. Marie machte die Wärmflasche neu, die half etwas. Sie hörte meinen Bauch ab. Darmgeräusche waren überall normal, nach Blinddarm sah es auch nicht aus. Unten rechts war der Bauch deutlich überwärmt.

„Soll ich dich ins Krankenhaus fahren?“, fragte sie mich. Ich schüttelte den Kopf. Eigentlich wollte ich nur in Ruhe gelassen werden. Mal war es zehn Minuten erträglich, mal war es zehn Minuten gut, dann ging es wieder los. Irgendwann bat mich Marie, das auf einer Skala von 0
bis 10 einzuordnen, wobei 10 für den heftigsten, unerträglichen Schmerz
steht, den ich mir vorstellen konnte. Ich entschied mich für etwa 5, in
Wellen bis 7. An Blutdruck messen und entsprechend lange stillhalten war nicht zu denken. Fieber hatte ich keins.

„Ich ruf meine Mutter an“, sagte sie irgendwann. Ich erwiderte: „Die schläft doch jetzt und hat das Handy lautlos. Und wird auf die Entfernung hin auch nichts sagen können. Lass uns noch eine Zeitlang abwarten, vielleicht geht das von alleine wieder weg.“ – „Ich hätte noch
etwas Scopolamin in meiner Giftküche.“ – „Och Marie. Ich bin für solchen Unsinn jetzt nicht zu haben.“ – „Mäuschen! Quartäres. In Drageeform. Und Metamizol könnte ich auch noch auftreiben.“ – „Das ist lieb gemeint, aber irgendwas stimmt hier ja nicht mit mir. Da bringt es ja nichts, symptomatisch die Schmerzen auszuschalten und in vier Stunden
sind sie wieder da und irgendeine Seuche oder irgendein technisches Problem ist vier Stunden lang unbemerkt weiter fortgeschritten. Es muss ja einen Grund für so heftige Schmerzen geben.“

Sie kamen wieder. Sie waren so heftig, dass ich nicht mehr liegen wollte. Ich setzte mich hin. Ich krümmte mich vor Schmerzen. Marie sagte: „So, pass auf, wenn sich das jetzt hier nicht gleich ändert, rufe
ich einen Krankenwagen.“ – „Wenn es schlimmer wird oder in den nächsten
zwei Stunden nicht besser, fahre ich ins Krankenhaus. Können wir uns darauf einigen?“ – „Ungern. Aber du bist die Chefin. Soll ich mich zu dir ins Bett legen?“ – „Bloß nicht. Dann werde ich wahnsinnig. Ich weiß so ja schon nicht, wie ich mich hinlegen soll.“

Um halb sieben musste ich noch einmal pinkeln. Unauffällig. Marie kochte mir einen Kamillentee, machte die Wärmflasche neu. Ich drehte mich nach wie vor von einer Seite zur anderen. Um halb acht sagte Marie:
„Du ziehst dir jetzt was an und dann fahre ich dich in die Klinik. Die sollen wenigstens mal ein Ultraschall machen. Du tust dir keinen Gefallen damit, das jetzt über Stunden zu ertragen.“ – „Im Moment würde ich es auf der Schmerzskala bei 2 einordnen. Gerade war es eher 8 als 7,
aber im Moment ist es 2. Lass uns noch einen Augenblick abwarten.“ – „Dann nutze doch jetzt wenigstens diese Zeit, um dir schon mal was anzuziehen.“

Ich wartete, rechnete fest damit, dass es nur eine Ruhe vor dem Sturm
war. Zehn Minuten. Nichts. Die Schmerzen gingen zurück. Ich bemerkte Unmengen überschüssiger Stresshormone in meinem Blut. Mein Herzschlag wurde langsamer. Ich verspürte plötzlich Hunger. Es war wie nach einem Triathlon. Ich war völlig geschafft, aber glücklich. Marie guckte mich an: „Was ist denn jetzt mit dir? Du hast plötzlich wieder Farbe im Gesicht.“ – „Die Schmerzen sind weg. Ich weiß nicht, warum, aber sie sind weg. Null. Ich traue dem Frieden noch nicht ganz. Aber es im Moment
fühlt es sich gut an.“

Es sollte dabei bleiben. In den nächsten dreißig Minuten blieb alles so wie es war. Ich war so müde, dass mir im Sitzen die Augen immer wieder zufielen. Marie und ich legten uns ins Bett und schliefen ein. Um
halb vier am Nachmittag wachte ich zum ersten Mal wieder auf. Die Zimmertür war einen Spalt offen, Marie klickerte in ihrem Zimmer an ihrem Laptop herum. Ich setzte mich in meinen Stuhl und rollte zu ihr. „War ich sehr gemein zu dir heute morgen?“, fragte ich, ein enorm schlechtes Gewissen habend. Ich erinnere mich noch sehr genau, mehrmals sehr unwirsch reagiert zu haben, weil ich einfach nur überfordert und total genervt und beängstigt war.

„Du warst ziemlich ungnädig, aber das war völlig okay so. Es gab dafür ja einen guten Grund.“ – „Hast du nochmal überlegt, was es war?“ –
„Ich vermute irgendwas mit dem Essen. Vielleicht der Salat. Du hast in den ersten Stunden im Schlaf rumgepupst wie ein Weltmeister. Einen Moment lang habe ich überlegt, ob das für einen Heißluftballon reichen würde.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert