Unter einer „ruhigen Adventszeit“ stelle ich mir eigentlich etwas anderes vor. Nämlich, dass es nicht in meinem Tagebuch sehr ruhig ist, weil ich vor lauter Terminen kaum noch zum Schreiben komme. Die Uni stresst mich zurzeit wirklich. Es vergeht aktuell kein Tag, an dem nicht irgendeine wichtige Arbeit abgeliefert, vorgetragen oder geschrieben wird. Alles ist sehr lernintensiv und vieles auch sehr tiefgründig. Bisher ist noch alles irgendwie gut gelaufen, aber ich sehne mir wirklich das Weihnachtsfest herbei, um mal wieder etwas durchschnaufen zu können.
Zoey musste so lange zum Glück nicht warten. Wir haben in der Nacht zu gestern unsere erste Übernachtung hinbekommen, hauptsächlich mit dem Ziel, dass sie lernen sollte, wie man alleine abführt. Ja lecker, aber nötig. Ihr Problem: Wegen ihrer Querschnittlähmung kann sie es bislang nicht alleine, bisher hat die Mutter den Enddarm im Liegen ausgeräumt, während Zoey fern gesehen hat. Das kann natürlich nicht ewig so weitergehen und vor allem muss das eigentlich nicht sein. Dass jemand manuell nachhelfen muss, sollte eher die Ausnahme sein. Sie hatte mir einen sehr langen Brief geschrieben, in dem es über mehrere Seiten darum ging, wie sehr sie diese Situation belastet, zumal die Sache an sich natürlich auch für ihre Mutter nicht angenehm ist, wobei diese aber, nach Zoeys Empfinden, zudem noch sehr dominant auftrete und sich kaum in die Situation der Tochter hinein versetzen könne. Mir persönlich wäre es insbesondere während der Pubertät schon zu viel, dass bei der Aktion überhaupt noch jemand anderes im Raum anwesend ist.
Was mir auffiel, war, dass Zoey in Anwesenheit ihrer Mutter meistens nur oberflächlich zuhörte und mit den Gedanken oft woanders zu sein schien. Das war, als wir uns unterhielten, überhaupt nicht der Fall. Im Gegenteil, es wirkte, als könne sie überhaupt nicht genügend Input bekommen. Ich vermute, dass sie einfach durch die ständige Übernahme ihrer Angelegenheiten durch die Mutter unterfordert war.
Sie sollte in meinem Bett schlafen, ich ging so lange zu Marie. Um 5.30 Uhr war der ausgemachte Termin, wobei mich wunderte, dass der zu Hause wohl selten eingehalten wurde. Und für einen gelähmten Darm ist es Gift, die Abführzeiten ständig zu wechseln. Wichtig war, dass sie bis 5.30 Uhr im Bett blieb und erst dann aufstand. Dann zum Klo, pinkeln, einen großen Becher warmen Tee trinken, wieder hinlegen, Zellstoff drunter, einige Stücke Küchenkrepp abreißen und bereit legen, Handschuhe an.
„Willkommen zur Kackparty“, freute sich Zoey und wirkte irgendwie gar nicht distanziert sondern fröhlich. Ich bat sie, sich auf die linke Seite zu legen, aus anatomischen Gründen, und erfuhr, dass die Mutter das zu Hause immer machte, indem Zoey auf der rechten Seite lag. „Andersrum geht das nicht, das Bett steht an der Wand.“ – Das ist ungefähr so hinderlich, als würde man einem Kind zum Sprechenlernen eine Kartoffel in den Mund stecken. Das linke Bein anzuwinkeln macht auch Sinn. Ich führte ihre Hände, sowohl die linke als auch die rechte nacheinander in die richtigen Positionen. „Nicht wehtun“, war der einzige Moment, in dem ich neu um Vertrauen werben musste. „Zoey, du wirst das gleich alles selbst machen, ich lege deine Hände nur an die richtigen Stellen.“
Zunächst musste der Enddarm so weit ausgeräumt werden, dass Platz für ein Mikro-Klistier war. Das klappte auf Anhieb, wenngleich Zoey sehr zögerlich und übervorsichtig war, fast schon zittrig. Marie saß vor Zoeys Kopf in ihrem Rollstuhl. Auf Zoeys ausdrücklichen Wunsch sollte sie mit dabei sein, als seelische Unterstützung. Sie guckte sich die Kliestierverpackung an und sagte: „Da solltest du, wenn alles funktioniert, mal probieren, ob nicht ein weniger heftiges es auch tut.“
Sie machte auf Anhieb alles richtig. Nun galt es abzuwarten, bis die Wirkung vorbei war. „Ich merke das immer an meinem Herzschlag. Sobald der wieder ruhiger wird, kann es losgehen.“ – Nach zwanzig Minuten ging das schon von alleine los. Zoeys Kommentar: „Scheiß die Wand an, wieso explodiert das denn fast? Das ist ja geil. Macht meine Mutter da immer nur die Hälfte rein oder was?“ – Ich antwortete, konnte mich vor Lachen kaum senkrecht halten: „Erstens der heiße Tee, zweitens liegst du auf der linken Seite. Und drittens kannst du froh sein, dass hier keine Wand ist. Das hätte durchaus Potential gehabt. Du solltest also wirklich sehen, dass du das nicht mehr im Liegen, sondern auf dem Klo machst, und dann demnächst auch mal ein schwächeres Mittel nehmen. Vielleicht reicht ein pflanzliches. Aber erstmal musst du jetzt lernen, wie du deinen Enddarm leer bekommst, wenn es auf dem Klo nicht funktionieren sollte. Erstmal wartest du, was von alleine passiert. Und zum Schluss machst du das weiter, was du vorhin schon angefangen hast. Bis nichts mehr kommt.“
„Das ist ja easy“, befand Zoey. Und fügte hinzu: „Und mit einem Handschuh auch nicht eklig. Hätte ich das gewusst, hätte ich meine Mutter schon vor drei Jahren raus geschickt. Und wieso pinkel ich jetzt?“ – „Das ist ein Reflex, der bei einigen Leuten auftritt, wenn der Enddarm leer ist. Deswegen legst du ja genügend Zellstoff drunter. Du kannst das also künftig alleine. Wichtig ist nur, dass du das regelmäßig spätestens jeden zweiten Tag, am besten zur gleichen Zeit, machst, und dass du nichts anderes als deinen Zeigefinger dort reinsteckst. Da kann man nämlich ganz viel verletzen. Und dann würde ich es künftig auf dem Klo probieren. Höchstwahrscheinlich wirst du nach ein paar Wochen ohne Zurhilfename deiner Finger auskommen.“
Nun bin ich mal gespannt. Mittags sagte Marie: „Stell dir mal vor, Zoey ist zwölf, kommt nach Hause und erzählt ihrer Mama ganz stolz: ‚Muddi, ich kann jetzt alleine kacken!’“ – Bei der Gelegenheit musste ich an eine Kollegin vom Sport denken, die mir erzählt hat, dass ihre Mutter sie früher immer bat, sie solle unterwegs ‚ich möchte singen‘ sagen, um ihr Bedürfnis alltagstauglich zu umschreiben. Was eines Tages in der S-Bahn dazu geführt habe, dass eine ältere Frau geantwortet hat: „Das ist aber schön, singst du uns was vor?“