Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen. Das wusste schon Matthias Claudius, und der fuhr mit Sicherheit nicht im ICE. Ich dachte mir, im Laufe der Jahre würden sich die Dinge so langsam verändern, vielleicht sogar verbessern. Aber ich bin wohl zu ungeduldig.
Spontaner ist sie geworden, die Deutsche Bahn. Während ich früher oft
die Auskunft erhielt, Rollstuhlfahrer dürften nicht mitfahren, wenn sie
nicht mindestens 48 Stunden vor Abfahrt angemeldet seien, hat man inzwischen sogar ausnahmsweise die Möglichkeit, die örtlichen Mitarbeiter großer Bahnhöfe spontan anzurufen, um sie um Einstiegshilfe zu bitten. Ganz ohne telefonische Voranmeldung zu reisen, ist aber nach wie vor nicht empfehlenswert: Es ist noch gar nicht so lange her, als mir eine Mitarbeiterin der Deutschen Bahn sagte, ich müsse auf dem Bahnsteig stehen bleiben, weil ich nicht vorgemeldet sei. Sie nehme nur Reisende im Rollstuhl mit, wenn diese angemeldet wären. Vier junge Männer, die kurzfristig von ihren Sitzen aufsprangen und getreu dem Motto „Vier Mann, vier Ecken“ die Stinkesocke über die Schwelle trugen, ließen die Dame mit der roten Mütze recht schattig darstehen.
Was aber auch passieren kann, und da erinnere ich mich an meine letzte Reise, dass ich mich ordnungsgemäß angemeldet habe, aber niemand am vereinbarten Treffpunkt erscheint. Nun muss man dazu sagen, dass sich
als Treffpunkt nur selten „vor der Zugtür“ vereinbaren lässt. Oft erwartet der Servicedienst der Deutschen Bahn, der Rollstuhlfahrer oder die Rollstuhlfahrerin möge sich zwanzig Minuten vor Abfahrt des Zuges an
einem Service Point einfinden. Um ihm oder ihr dann dort zu sagen: „Sind Sie Frau Stinkesocke? Alles klar, dann treffen wir uns in zwanzig Minuten vor der Tür zu Wagen neun! Fahren Sie schonmal vor!“ – In diesem
Fall stand ich am Service Point, allerdings alleine. Nach zehn Minuten entschied ich mich, doch zum Zug zu fahren und die Aufsicht auf dem Bahnsteig anzusprechen. Kreisch: „Das müssen Sie anmelden!“ – „Hab ich, ich komme gerade vom Service Point, da waren wir vor zehn Minuten verabredet, aber Ihr Kollege ist nicht erschienen!“ – „Warum kommen Sie denn erst jetzt? Wie soll ich in den verbleibenden zehn Minuten einen Kollegen finden, der die Rampe bedienen kann?“
Schlurfenden Ganges kam der Herr für die Rampe dann doch noch rechtzeitig. Er habe mich am Service Point gesucht, ich sei nicht dort gewesen. Ich setzte mein freundlichstes Lächeln auf. Übrigens kam der Zug zwanzig Minuten verspätet, da er verzögert bereit gestellt worden war. Und in umgekehrter Wagenreihenfolge. Was natürlich immer besonders lustig ist, da die mehrere Meter breite, fahrbare Rampe am halben Zug entlang durch die Ströme sich neu orientierender Reisender hindurch geschoben werden muss. Aber immerhin blieb das Gleis dasselbe, so dass mir hektische Wechsel auf andere Bahnsteige erspart blieben.
Im Zug ging das Chaos weiter: „Müssen Sie in den nächsten Stunden auf
die Toilette? Denn die einzige Behindertentoilette ist gesperrt. Wir könnten Sie an der nächsten Station raussetzen, Sie warten dort eine Stunde auf den nächsten Zug – oder Sie müssen ein paar Stunden anhalten.“ – „Kann man da denn nur nicht spülen oder ist der Raum unbenutzbar?“ – Ich wollte der Zugbegleiterin jetzt nicht erklären, wie Einmalkatheter mit Beutel funktionieren (grundsätzlich sollte jeder, der
sich bei voller Blase kurzzeitig einen Katheter zur Blasenentleerung durch die Harnröhre schieben kann, entsprechendes Equipment bei jeder Bahnfahrt notfallmäßig im Rucksack haben), bekam aber dennoch gleich die
passende Antwort: „Wenn Sie es genau wissen wollen: Jemand hat seine Wurst gleichmäßig über die Brille verteilt. Und ich mache das nicht weg.“ – Das war doch mal eine Ansage. Und das ausgerechnet auf dem Behindertenklo. „Das muss irgendein Behinderter gewesen sein“, befand ich, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Eine Rollstuhlfahrerin, die es sich bereits auf dem anderen der beiden vorgesehenen Plätze gemütlich gemacht hatte, konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. „Das habe ich mir auch schon gedacht“, meinte sie. Die Zugbegleiterin schüttelte verstört den Kopf und schritt davon.
Am Ende bekam ich die Präsidenten-Suite zum Kathetern. Die Zugbegleiterin räumte ihr Büro, ich durfte mich auf ihren Stuhl setzen, Rollstuhl raus, Tür zu, Hose runter, Beine breit, Schlauch rein, Schlauch raus, Hose hoch – fertig. Jetzt nur auf ein intaktes Rücklaufventil hoffen und den Beutel draußen im Restmüll entsorgen. Und hoffen, dass er unter dem Gewicht des übrigen Mülls nicht platzt.
Die Verspätung baute sich auf insgesamt vierzig Minuten auf, da wir aufgrund der ersten Verspätung uns nun hinter einem langsam fahrenden Güterzug befanden. Gerade hatten wir den überholt, da musste jemand vom Rettungsdienst aus dem Zug geholt werden, wofür der Zug noch einmal außerplanmäßig an einem Wald- und Wiesenbahnsteig hielt. Einige Reisende
nutzten diesen Aufenthalt als Rauchpause, sehr zum Ärgernis der Zugbegleiterin, denn die musste erstmal von Wagen 1 zu Wagen 11 laufen, um die Leute wieder in den Zug zu scheuchen. Das „Bitte steigen Sie ein,
wir wollen weiterfahren!“ über die Lautsprecheranlage reichte nicht.
Und muss ich noch erwähnen, dass an meinem Zielbahnhof die bestellte Ausstiegshilfe nicht bereit stand? Worauf der Zug beinahe mit mir weiter
gefahren wäre, allerdings ist die Stinkesocke ja inzwischen so routiniert und dreist zugleich, dass sie sich mit ihrem Stuhl so in die offene Tür stellt, dass diese nicht mehr ohne Besuch der Zugbegleiterin zufällt. Man lernt eben dazu. „Vier Mann, vier Ecken“ half auch hier. Was wäre ich bloß ohne die vielen starken und hilfsbereiten Männer, die regelmäßig Zug fahren?