Spontanes Training

Der Norden hat mich wieder. Endlich. Wie habe ich sie vermisst, die
Stadt, von der viele Hamburgerinnen und Hamburger behaupten, sie sei die schönste der Welt. Auch das norddeutsche Wetter habe ich vermisst. Die Niederschlagsmenge würde zwar für locker zwei Meter Neuschnee reichen, die Windstärke für einen weiteren Meter Schneeverwehungen, nur für einen weißen Heiligabend hat irgendwer den Thermostat falsch eingestellt: Bei deutlich zweistelligen Werten könnte man beinahe über eine Kugel Eis auf die Hand nachdenken.

Lisa fragte ungefähr ein halbes Dutzend Mal, ob wir noch eine Runde mit dem Handbike trainieren wollen. Zuerst hatte ich das für einen Scherz gehalten, denn die Regentropfen flogen zeitweise waagerecht. Aber
es war ernst gemeint. Warm genug war es, und so trafen wir uns tatsächlich noch zu einer moderaten Einheit auf dem Elbdeich. Lisa fiel uns buchstäblich um den Hals, drückte Marie und mir einen dicken Kuss auf die Wange und erzählte uns mindestens drei Mal, wie sehr sie uns vermisst hätte. „Die Leute sind aktuell alle so träge“, ließ sie uns wissen.

Und sie hätte Frust angestaut, den sie durch ein wenig körperliche Bewegung loswerden wollte. Frust darüber, dass ihr Chef sie zum Jahresende gekündigt hat – wegen ihrer Behinderung. Bevor nun eine Diskussion beginnt, dass man Menschen mit Behinderung nicht wegen ihrer körperlichen Beeinträchtigung kündigen dürfe, fasse ich das Drama kurz zusammen: Sie soll geklaut haben. Irgendetwas geringwertiges, womit sie zudem wegen ihrer Behinderung gar nichts anfangen kann. Sie sagt, das sei an den Haaren herbeigezogen. Wirklicher Grund war, dass ihr Chef vor
kurzer Zeit erkannt hatte, dass das Arbeitsamt nicht für Lisas Gehalt aufkommt. Auch nicht teilweise. Darauf hatte der Chef aber spekuliert, als er eine junge Frau mit Behinderung eingestellt hatte. Es hätte sogar
für zwei bis drei Jahre funktionieren können, wenn der Arbeitsvertrag nicht befristet geschlossen worden wäre.

Wie dem auch sei – sie arbeitet, um nicht vom Unterhalt der Eltern abhängig zu sein. Sie ist stolz auf ihre Unabhängigkeit. Der angebliche Diebstahl passt überhaupt nicht. Und ich kann es verstehen, dass sie sich darüber aufregt. Es regt ja sogar mich auf, wenn ich nur zuhöre. Gemeinsames Schimpfen über das ganze System tat ihrer Seele gut. „Am liebsten hätte ich an dem Tag alles kurz und klein gehauen und mich mit allen Leuten, die mir über den Weg gelaufen sind, geprügelt“, meinte sie
und fügte hinzu: „Wunder dich nicht, wenn ich gleich absichtlich mittig
durch die tiefsten Pfützen fahre. Ich brauche das heute.“

So gesellte sich zu Marie und einer Stinkesocke, die aussahen wie zwei begossene Pudel, ein kleines Erdferkel, das sichtlichen Spaß daran hatte, dreckig zu werden. Marie und ich mussten sie am Ende mit vereinten Kräften davon abhalten, direkt in den See zu springen. Nach zwei Stunden Training wäre das gerade noch sieben Grad warme Wasser eine
absolute Herausforderung für jeden Kreislauf. Mit ungewissem Ausgang. „Ich mache dir einen anderen Vorschlag“, sagte Marie. „Wir duschen jetzt
warm und anschließend kommst du mit zu mir und wir machen zu dritt einen Sauna-Abend bei uns im Garten.“

Schön war es. Auch wenn mir Sauna bei Schneegestöber besser gefällt als bei zweistelligen Außentemperaturen, die Gartensauna war definitiv auch etwas, was ich in den letzten Wochen vermisst hatte.

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