Maries Eltern waren heute zu einem Sektfrühstück eingeladen, Marie und ich durften ausschlafen und anschließend mit dem Hund eine Stunde am
Deich spazieren gehen. Insofern fing der Tag besser an als er danach weiterging. Wir freuten uns schon auf gemeinsames Raclette mit zwei Freundinnen. Als endlich alle sechs am Tisch saßen, gab es ein eher leises Knacken in dem Gerät, anschließend wurde es dunkel im Raum. Irgendeine Sicherung in der Hausinstallation war rausgesprungen. Maries Vater probierte das noch ein zweites Mal in seinem Bastelkeller mit ähnlichem Ausgang. Eine der beiden Bekannten meinte dann: „Meine Eltern haben fast das gleiche Gerät zu Hause. Wir könnten es schnell holen.“
Gesagt, getan. Die beiden Freundinnen waren mit Fahrrädern gekommen, die Eltern wohnten aber rund fünfzehn Kilometer entfernt. Maries Papa wollte nach dem Sektfrühstück nicht mehr fahren, also war ich dran. Da die Freundinnen erst noch fragten, wie denn das mit dem Rollstuhl ginge,
entschied sich kurzerhand Maries Papa, mit mir mitzufahren. So konnte bei den Eltern der Freundin schnell jemand aus dem Auto springen und das
Gerät rausholen.
Ich hatte ja schon immer den Verdacht, dass Maries Papa selbst auch einen Magneten mit sich führt, der meinen Idiotenmagneten zumindest ablenkt. Wenn auch nur sehr schwach. Ich fuhr mit rund 35 km/h auf eine Ampelkreuzung zu. Die Straße war hier in meine Richtung dreispurig. Jeweils eine Rechts- und Linksabbiegerspur und eine für Geradeaus. Ich wollte mich auf die Linksabbiegerspur einordnen, und da man dabei ja einen Schulterblick macht, guckte ich für einen Moment nicht nach vorne.
Genau in dieser Sekunde kam eine Frau in einem Kleinstwagen aus einer rund 200 Meter vor der Kreuzung von rechts einmündenden Stopp-Straße geschossen. Ohne zu blinken, vermutlich ohne zu gucken und ganz sicher ohne an der Haltelinie zu stoppen. Aufmerksam wurde ich auf sie zuallererst durch die City-Notbremsfunktion an meinem Fahrzeug, die unvermittelt auslöste, dann durch ein „Vorsicht!“ von Maries Vater, der vergeblich auf das nicht vorhandene Bremspedal auf der Beifahrerseite steigen wollte. Mein Glück war, dass auf der entgegenkommenden Spur niemand fuhr, so dass ich mit einem beherzten Dreh am Lenkrad eine Kollision gerade noch verhindern konnte.
Die erste Reaktion von Maries Vater, der sich bei dem Manöver den Kopf gestoßen hatte: „Alter Schwede, hast du Reflexe. Ich wäre der jetzt
ganz geschmeidig in die Tür gekachelt.“ – „Das war die Elektronik. City-Notbremsfunktion nennt sich das. Die bremst noch bevor die Schrecksekunde vorbei ist.“ – „Egal, jetzt weißt du, wieso ich nach einem Sekt nicht mehr Auto fahre.“ – „Sag mir mal lieber, was die geraucht hat“, meinte ich und wunderte mich darüber, dass die Dame ohne offenbar von der Situation Notiz genommen zu haben, weiterfuhr und sich inzwischen nicht mehr ganz links, sondern mittig (in der Geradeausspur) vor der roten Ampel eingeordnet hatte. Maries Vater sagte: „Die hatte zu
Weihnachten acht Flaschen Melissengeist – da bleibt eben Restalkohol.“
Als wir neben ihr an der Ampel standen, wagte ich einen Blick nach rechts. Das Auto war völlig von innen beschlagen, nur die Seitenscheibe war einmal unten gewesen und in der Frontscheibe war eine pizzateller-große Fläche freigewischt. „Sie kocht sich gerade einen Tee“, blödelte ich. Maries Vater schüttelte nur den Kopf. Die Ampel sprang auf grün, ich fuhr los, da kein Gegenverkehr kam, konnte ich sofort abbiegen. Ich guckte zur Sicherheit noch einmal links über die Schulter, ob noch vielleicht ein Radfahrer ohne Licht gegen die Fahrtrichtung über den Fußgängerüberweg geprescht kommt, und als ich wieder nach vorne gucke, sehe ich im Augenwinkel die Scheinwerfer eines Autos im rechten Außenspiegel. Reflexartig weiche ich nach links aus und
komme gerade noch rechtzeitig vor einem Linienbus zum Stehen, der gerade an seiner roten Ampel wartet. Tatsächlich war die Frau in dem beschlagenen Auto ebenfalls links abgebogen – von der Geradeausspur, quasi in zweiter Reihe. Da es eigentlich nur eine (meine) Linksabbiegerspur gab, mussten wir uns am Ende eine Fahrspur teilen. Und
die hatte Madam bereits durch ihr Rechts-beim-Abbiegen-Überhol-Mavöver voll in ihrem Beschlag. Sie blieb neben mir kurz stehen und zeigte mir eine Scheibenwischer-Geste. Ich habe vermutlich aus der Wäsche geguckt wie eine Kuh wenn es donnert.
Der Busfahrer nahm die Hände vor sein Gesicht und schüttelte ebenfalls den Kopf, lehnte sich extra weit nach vorne, um der Frau in dem beschlagenen Auto noch hinterher gucken zu können. Ich seufzte einmal tief und ordnete mich wieder in den fließenden Verkehr ein. An der nächsten Kreuzungsampel hatten wir sie wieder eingeholt. Maries Vater sagte: „Bleib bloß dahinter, sie biegt bestimmt gleich aus der linken Spur nach rechts ab.“ – Wäre es nicht so gefährlich, könnte man glatt darüber lachen: Er sollte recht haben. Kaum über die Kreuzung, zog
sie ohne zu blinken und ohne zu gucken nach rechts in meine Spur und bremste scharf. Da wir versetzt fuhren, war das nicht weiter kritisch, außer dass ich eben auch scharf bremsen musste. Dann bog sie nach rechts
auf eine Tankstelle ab. „Fahr mal hinterher“, meinte Maries Vater.
„Und dann?“, fragte ich. Er sagte: „Ich will mal sehen, ob die besoffen ist. Falls ja, rufe ich eben meine Kollegen an. Bevor sie heute
noch einen vom Fahrrad holt oder vielleicht ein Kind totfährt.“ – Madam
fuhr allerdings nicht zum Tanken, sondern gleich wieder zur Ausfahrt. Vielleicht fühlte sie sich verfolgt. Ich blieb neben einer Zapfsäule stehen und sagte: „So. Ich werde jetzt mein Glück nicht weiter strapazieren und du hast heute dienstfrei. Diesel ein Euro sieben. Machst du kurz voll? Und dann holen wir den Raclette-Grill. Nicht, dass die Trulla uns gleich noch reinknallt und ihr Anwalt später vor Gericht die Frage stellt, warum wir nicht schon vor drei Kilometern die Polizei gerufen haben.“ – „Da hast du recht.“ – „Siehste…“
Am Ende gab doch noch ein tolles Raclette-Essen. Ich fühle mich nun völlig genudelt
gekartoffelt und gekäst, bin mit Marie, den Eltern und den Gästen noch eine große Runde durch Felder und Wiesen bei strahlend blauem Himmel und
eiskaltem Wind gedreht, wir mit (Vorspann-) Handbikes, die restlichen Leutis auf Fahrrädern und der Hund auf vier Pfoten. Endlich kann ich mich mal ein wenig entspannen!