Owie lacht!

Was wäre bloß eine Arztpraxis ohne Notfallsprechstunde am Heiligabend? Marie und ich durften Maries Mutter in ihrer Praxis unterstützen. Ihr ausdrückliches Ziel war es, bis zum frühen Nachmittag wieder abschließen zu können. Die Mitarbeiterin schlug vor, ein Schild an die Tür zu hängen: „Heute nur Notfälle!“ – Maries Mutter meinte, dass
das eher diejenigen zum Umkehren bringt, die wirklich gesundheitliche Probleme haben. Die anderen fühlen sich dadurch eher noch bestätigt. Sie
sollte Recht behalten.

Um 7.40 Uhr, zwanzig Minuten vor dem Aufschließen, saßen bereits vier
Patienten in ihren Autos, teilweise in Begleitung, teilweise alleine. „Wer noch selbst Auto fahren kann, riskiert entweder fahrlässig seinen Lappen oder ist kein Notfall“, philosophierte Maries Mutter.

Ein Mann um die 40 kam mit einem Migräne-Anfall. Er besuche seine Eltern in Hamburg, habe seine Medikamente nicht mitgenommen, da er seit einem halben Jahr keinen Anfall gehabt hatte. Seine Eltern sind bei Maries Mutter in Behandlung. Ausgerechnet zu Weihnachten ging das los. Ihm war wirklich anzusehen, dass es ihm nicht gut ging. Er bekam seine Notfallmedizin verordnet und machte sich auf den Weg zur Notdienst-Apotheke.

Ein anderer Mann in etwa gleichem Alter hatte sich einen Nerv in der Schulter eingeklemmt und höllische Schmerzen. Da konnte Maries Mutter gut helfen. Eine junge Frau kam mit ihrem kleinen Kind, das sich beim Toben eine stark blutende Wunde am Unterarm zugezogen hatte. Auch das war eher Routine. Eine ältere Frau, um die 70, hatte seit dem Vorabend Probleme mit einem implantierten Herzschrittmacher. Sie habe das Gefühl,
mehrmals kurzzeitig bewusstlos gewesen zu sein. Sie wollte „ein paar starke Wachmacher auf Rezept“ – und bekam natürlich eine Einweisung ins Krankenhaus. Einem älteren Mann war es sichtlich unangenehm, dass seine Frau ihre Zuckertabletten verloren hätte. Es sei sowieso der letzte Blister gewesen und der sei nun weg. Für diese Leute war es wichtig, heute einen Arzt anzutreffen.

Aber es gab natürlich auch wieder den üblichen Wahnsinn. Ein junger Mann mit einer entzündeten Haarwurzel wollte etwas zum Abschwellen, damit seine Freundin nicht denke, er sei unhygienisch. Ein anderer junger Mann wollte ein Antibiotikum. Er habe seit Wochenbeginn eine Erkältung, letzte Nacht im Zug aus Berlin Fieber bekommen. Eine junge Frau wollte die „Pille danach“, sozusagen vorweg, falls über Weihnachten
etwas unvorhergesehenes passiert. Ein Vater kam mit seiner Tochter, die
angeblich beim Zähneputzen das Wasser samt einer erbsengroßen Menge Zahnpasta runtergeschluckt und nun Bauchweh habe. Der Unfall war allerdings schon gestern abend gegen 18 Uhr passiert.

Und ein Mann Mitte 30, vorher noch nie in der Praxis gewesen, wollte wissen, ob heute viel los sei – falls nicht, würde er sich nämlich gerne
eine kleine Warze an der Brust entfernen lassen, dazu habe er sonst immer keine Zeit, weil er arbeitete. Nein, nicht seine Brustwarze. Es handelte sich um ein stecknadelkopfgroßes Fibrom. Als Maries Mutter ihm dann erzählte, dass sie auch Termine vor und nach seiner Arbeit hätte und das eine privatärztliche Leistung sei, wurde er laut und flog am Ende raus.

Kurz vor Schluss kam noch eine alte Frau, weit über 90, zum Blutdruckmessen. Sie ist dement und wohnt bei ihrer Tochter und dem Schwiegersohn. Als diese sie alleine ließen, um die Enkelkinder vom Flughafen abzuholen, hat sie sich auf den Weg zum Arzt gemacht. Nachdem alles kontrolliert war, holte die von mir angerufene Tochter sie wieder ab. Sie kamen gerade durch die Tür, als das Telefon klingelte – und damit blieb ihnen zum Glück jede Aufregung erspart. „Das war das erste Mal, dass sie aus dem Haus gegangen ist“, meinte die Tochter. Die alte Dame antwortete: „Ich kann doch wohl noch alleine zum Arzt gehen, schließlich hatte ich einen Termin! Meine Tochter stellt mich immer dümmer dar als ich bin.“ – „Das ist bestimmt keine Absicht“, beschwichtigte Maries Mutter, „ich glaube, Ihre Tochter macht sich einfach Sorgen um Sie und möchte, dass es Ihnen gut geht!“

Es gelang, um halb vier Feierabend zu machen. Um sechs Uhr abends gingen Marie und ich mit Maries Eltern in einen Gottesdienst, anschließend gab es zu Hause eine kleine Bescherung (am meisten bekam der Hund, und dem gefiel am besten das Geschenkpapier) und einen wunderschön entspannten Abend. Würstchen und Kartoffelsalat als klassisches Hamburger Heilig-Abend-Mahl – anschließend wurde getanzt und
gesungen. Unsere zwei Gitarristinnen haben das mal wieder toll hinbekommen. Der weiße Neger Wumbaba war heute zwar nicht vor Ort, dafür
hatte Gottes Sohn Owie aber endlich mal wieder gelacht (Insider: „Stille Nacht, heilige Nacht, Gottes Sohn Owie lacht lieb aus deinem göttlichen Mund, …“). Am schönsten von uns allen sang der Hund, wobei er
aus meiner Sicht für seine Lautstärke noch nicht textsicher genug war. Aber das sah Marie ganz anders. Sie sprach von Multilingualität. Auf ihren Füßen sitzend, den Kopf im Nacken, erfuhren wir, dass „A-huuuu-hu-huuuuu-jajaja-njam-njam“ – alles klar?

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!

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