Frohes Neues

Mein neues Jahr begann besser als das alte endete. Ich will nicht behaupten, dass es ein schlechter Silvester-Abend war, den ich verbracht habe, aber er hatte durchaus entspannter werden dürfen. Wenn das allerdings der Preis für ein schönes und entspanntes 2015 war, war es okay. Letztlich bin ich bei einer Gratwanderung mal wieder falsch abgebogen. Was einer Rollstuhlfahrerin auch mal passieren kann – ich bitte um Nachsicht…

„Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“ heißt es einerseits im Volksmund. Andererseits ist jedes Wagnis auch immer mit einem Riskiko verbunden – das liegt in der Natur der Sache. Unser Wagnis war, dass wir uns ausgerechnet zum Silvesterabend mal wieder auf unbekannte Menschen eingelassen haben.

Marie und ich wollten zusammen feiern. Auf jeden Fall irgendwas leckeres essen, vielleicht sogar selbst kochen; auch Raclette oder Fondue waren anfangs denkbar. Kurz vor Weihnachten fragte Marie mich, ob
eine gleichaltrige Frau, die Marie seit vielen Jahren aus einer Art Selbsthilfegruppe kennt, dazu kommen dürfte. Marie meinte, sie sei sehr nett. Sie hätte ebenfalls eine Querschnittlähmung, allerdings im Sakralwirbelbereich, so dass nur die Fuß- und Zehenmuskulatur, die Blase und der Darm betroffen sind. Nicht in Ordnung und daher versorgt ist auch der Hirnwasserkreislauf, was bei Spina bifida ja häufig ist. Auf den ersten Blick sieht man ihr die körperlichen Einschränkungen nicht an, wenn man genau hinsieht, bemerkt man eine Standunsicherheit. Die Dame kommt aus Hamburg, studiert aktuell etwas Soziales in der Schweiz und würde auch eine Nacht bei Marie schlafen wollen.

Natürlich war es für mich okay, dass sie mit uns Silvester feiert. Ich vertraue da voll und ganz auf Maries Einschätzung. Auch dass besagte Dame im zweiten Schritt und nach vorheriger Nachfrage noch eine nahezu blinde Kommilitonin mitbringt, mit der niemand Silvester feiern möchte, fand ich okay. Auch wenn ich mich einen Moment gefragt habe, ob Raclette und Fondue etwas für blinde Menschen sein kann. Aber nachdem mir versichert wurde, dass sie sich darauf freut, war ich nur noch gespannt.

Drei Tage vor Silvester kam dann alles doch ganz anders. Es fragten noch weitere Leute aus Hamburg und Umgebung, alle aus besagter Selbsthilfegruppe, an, ob wir die Party nicht etwas größer machen wollten. Ich zuckte mit den Schultern. Maries Mutter sagte: „Dann geht ihr aber irgendwo feiern. Ich will hier im Haus zum Jahreswechsel keine Open Party, zu der zwanzig Leute Shit, Sprit und Sprengstoff mitbringen.“ – Frei nach dem Motto „was sich liebt, das neckt sich“, antwortete Marie keck: „Ich dachte, du könntest vielleicht für uns kochen.“

Eigene Vorschläge hatte niemand derer, die sich anschließen wollten. Aber ein separater Chat in einem sozialen Netzwerk wurde eigens blitzschnell eingerichtet. Alle wollten feiern, aber niemand hatte eine Idee. Insgesamt sollten wir neun Leute werden. Da, inzwischen zwei Tage vor Silvester, die Auswahl nicht mehr groß war, war ich schon einigermaßen stolz, einen großen Tisch in einem sehr angesagten, modernen Szene-Restaurant direkt am Hamburger Hafen bekommen zu haben. Also kein nobler Schuppen, sondern eher was für Leute zwischen 20 und 40 mit super leckeren, qualitativ hochwertigen Burgern, Salaten, Aufläufen – himmlisch. Weil eine Gruppe kurz vor uns abgesagt hatte, waren zehn Plätze frei. Mit dem Rollstuhl zu erreichen, Essen nach Karte zu moderaten Preisen, laute, aber nicht zu laute Partymucke, Cocktails – was will man mehr? Um 21 Uhr wäre der Tisch frei, bis 23.30 Uhr könnten wir ihn haben, dann kämen diejenigen, die von dort das Feuerwerk über der Elbe sehen wollten. Ich fand den Deal genial, Marie, ihre Freundin und deren Freundin ebenfalls und ein weiteres junges Mädel aus der Selbsthilfegruppe auch. Kurzfristige Entscheidungen waren gefragt, also sagte ich zu und bestellte den Tisch.

Dann ging die Diskussion los. 21 Uhr sei zu früh, fanden die vier Männer. Ob man sich nicht auch um 22 Uhr treffen könnte. Nein, den Tisch gibt es nur ab 21 Uhr oder gar nicht. Ob ich nicht mal anfragen könnte, ob dann 21.30 Uhr ein Kompromiss sei. „Dann kommst du halt etwas später dazu.“ – Nö, das wollte er nicht. Außerdem sei das dort zu laut. Er und seine Kumpels würden vielleicht woanders hingehen. Ob wir nicht mitkommen wollten – er dachte, man sammle noch Ideen.

Man verabredete sich also offline, per SMS oder WhatsApp, in eine Bar zu gehen, rund 800 Meter von dem Restaurant entfernt. Treffen sei um 20.30 Uhr, weil bis 21 Uhr noch Happy Hour sei… Das war der Moment, in dem ich ein zweites Mal in dem Lokal angerufen und von neun auf fünf Leute reduziert habe. Kurzer Prozess. Selbstverständlich schrieb ich darüber auch im Chat.

Der Silvesterabend begann. Wir fuhren mit der S-Bahn in die Stadt, stolperten noch einmal über die Reeperbahn, die die blinde Studentin aus der Schweiz unbedingt einmal erleben wollte, wenngleich jetzt noch verhältnismäßig wenig los war, und fanden uns um 21.00 Uhr vor unserem reservierten Tisch ein. Die Stimmung war gut, das Essen war super lecker, ein Rolliklo war in Sichtweite und für die laufenden Gäste verschlossen. Mit uns am Tisch saßen vier junge Männer aus Dänemark, die uns am laufenden Band Cocktails, Bier, Eis, Salzstangen und Chips ausgeben wollten. „Das gibt hier auch so leckere Fruchtjoghurts, die müsst ihr probieren!“ – Ihr Deutsch und unser Englisch reichte für eine halbwegs sinnvolle Verständigung. Der Kellner war sehr nett und sehr aufmerksam, alles in allem könnte es ein prima Abend werden.

Standen da nicht plötzlich gegen 22 Uhr die vier jungen Männer im Raum. An der Tür wollte man sie erst gar nicht reinlassen, bis sie behaupteten, zu uns zu gehören. In Begleitung unseres netten Kellners wurden sie in ihren Rollstühlen an unseren Tisch geführt. Mit der Frage, welches Missverständnis hier vorläge, denn der Laden sei restlos voll. „Ach, wenn die vier [Dänen] etwas zusammenrücken, geht das. Die sind ja schon fertig mit Essen.“ – „Wir können sonst auch spazieren gehen, es sind ja nur noch zwei Stunden bis Mitternacht“, bot der eine von Ihnen an. „Wir sind ja nur spontan noch drangekommen und wollen Ihnen nicht die Plätze wegnehmen.“

Ich weiß, mein Gerechtigkeitsempfinden macht es mir oft nicht leicht und mein zu schwach ausgepräger Egoismus tut das Übrige. Aber dennoch: Nein. Alleine, dass die hier so auftauchen, hatte Fremdschäm-Charakter. Und da Marie mit denen im selben Verein oder in derselben Organisation ist, war es wohl eher meine Aufgabe, mal den Mund aufzumachen. Ich sagte: „Entschuldigung, aber ich hatte eure Plätze wieder zurückgegeben,
da ihr doch in die Bar wolltet. Das ist, glaube ich, jetzt schlecht. Ihr könnt ja nicht andere Gäste verscheuchen.“ – „Naja, die sitzen im Rollstuhl“, hatte der eine Däne Verständnis. Das hatte gerade noch gefehlt. Ich sagte: „Nee, nix Rollstuhl.“ – Marie legte ihre Hand auf meinen Handrücken. Ich schluckte den Rest des Satzes runter. Sie redete weiter: „Lass gut sein, Jule. Die vier können ja vorne fragen, ob noch ein Tisch frei ist, und ansonsten treffen wir uns kurz vor zwölf zum Anstoßen an der Elbe.“

Das Ende vom Lied war, dass der Kellner die vier wieder nach draußen begleitete. Wäre noch Platz gewesen, hätte man zusammenrücken können, hätte man sich umsetzen können und zwei leere Rollis ins Behindertenklo stellen – alles kein Problem. Aber es war wirklich kein einziger Platz mehr an den Tischen frei. Alle saßen gedrängt, sie hätten nur noch in den Gängen stehen können. Und das geht nunmal nicht. Und das ist auch okay so. Sie hatten ihre Chance. Sie wollten sie nicht.

Kurz danach kam eine SMS: „Was soll das Theater, wir hatten die Leute am Tisch doch schon so weit, dass sie gehen wollten?“ – Ich schaltete mein Handy aus und ließ mir die gute Stimmung nicht vermiesen. Wir waren
auch ohne übermäßigen Alkoholkonsum tierisch gut drauf, nahezu ausgelassen. Frauenthemen durften genauso wenig fehlen wie Männerthemen.
Die Dänen hatten bereits reichlich getankt und wollten allen Ernstes wissen, ob blinde Leute masturbieren können. „Findest du deinen Schwanz im Dunkeln etwa nicht?“, kam als schlagfertige Antwort. Das letzte Alsterwasser (Limonade, also Brause, mit Bier) lehnte Marie ab. „Ich muss die Durchflussrate jetzt mal ein wenig reduzieren“, meinte sie. Die blinde Kommilitonin meinte: „Quatsch, ich geh mit dir hinter jeden Busch.“ – Gelächter. Ich erwiderte: „Ich leih dir eine Windel.“ – „Na dann: Doch noch ein Alsterwasser!“

Um halb zwölf machten wir uns mit den Dänen auf den Weg zum Wasser. Die beiden hakten die blinde Frau unter und ergänzten sich damit wunderbar. Sie torkelte nicht und die anderen konnten gucken. Das junge Mädel aus der Selbsthilfegruppe hatte sich von unserer ausgelassenen Art anstecken lassen und sagte, während wir mit anderen Leuten auf den Aufzug vor der S-Bahn warteten: „Ich habe das totale Feuerwerk in der Unterhose. Irgendwie habe ich die Zwiebeln im Verdacht.“ – Woraufhin spontan einige der umstehenden Leute die Rolltreppe nahmen. „Hat funktioniert“, lachte sie. „Ihr seid ja gut drauf“, fand ein älterer Mann mit Stock.

Die schönsten Feuerwerksbilder sind beim Anstoßen um Mitternacht jetzt nicht entstanden. Aber ich stelle sie trotzdem rein. Und wünsche damit noch einmal ein frohes Neues 2015!

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