Rausgedreht

Ein neues Jahr hat begonnen und der Wahnsinn geht genau so weiter wie er im alten Jahr aufgehört hatte. Wer hätte das gedacht? Okay, ich bin auch nicht überrascht. Und die neuen Vorsätze? Tja, die meisten haben sie schon aufgegeben. Aber ich nicht! Das mag daran liegen, dass ich auf einen Expertenrat im Supermarktradio gehört habe: „Beschließen Sie nur Vorsätze, die eine realistische Chance haben, von Ihnen auch eingehalten zu werden.“ – Habe ich gemacht. Ich habe mir vorgenommen, 2015 nicht mit dem Rauchen anzufangen. Das halte ich jetzt gerade das 23. Jahr in Folge durch!

Anders erging es einer Patientin, die sich heute im Herrenklo (!) der
chirurgischen Aufnahme eine Kippe anstecken musste und damit das automatische Brandmeldesystem der Klinik ausgelöst hat. Sie kam eigentlich von der chirurgischen Station, nur dort hatte man ihr das Rauchen verboten. Not machte halt erfinderisch.

Und Langeweile macht streitsüchtig. Das habe ich heute auch gelernt. „Jule, sehen Sie doch bitte mal nach, was die beiden Damen in Zimmer 9 da anstellen. Die sind schon wieder bis auf den Flur zu hören.“ – Ist das meine Aufgabe? Nein? Egal. Einer fliegenden Schnabeltasse konnte ich
gerade noch ausweichen, dann ging es los: „Ach, da schicken sie jetzt die Behinderte, weil wir zu laut sind? Soll das jetzt Eindruck schinden?“

Das gefiel mir. Ich erwiderte: „Dass Sie zu laut sind, haben Sie jetzt aber selbst gemerkt, ja?“ – „Mach den Kopf zu, du halbes Huhn“, bekam ich als Antwort. Ich hatte noch was auf der Zunge: „Sie brauchen sich gar keine Mühe zu geben, ich möchte bei ihrem Streit nicht mitmachen. Ich kann Ihnen nur versprechen: Wenn Sie sich hier nicht gleich altersgemäß benehmen, schlafen Sie nächste Nacht beide auf dem Balkon.“ – Umdrehen, raus, Tür zu. Meine heutige Anleiterin lehnte draußen mit dem Po an der Wand, stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und gackerte. Ich guckte sie fragend an.

„Ist das geil. Ich stell mir gerade vor, wie du sie mitsamt der Betten über die Balkonschwelle wuchtest. Worüber streiten die sich?“, fragte sie. – „Keine Ahnung. Warum legt man die nicht auseinander?“ – „Keine Ahnung, musst du die Pflegekräfte fragen. Wahrscheinlich kann man
die aber keinem zumuten. Weder die eine noch die andere.“ – Im selben Moment ging das Theater wieder los. Meine Anleiterin stapfte ohne zu klopfen ins Zimmer und versuchte es auf ihre Art. „So, Mädels, wo liegt euer Problem?“, wollte sie wirklich wissen. Die am Fenster liegende Frau
sagte: „Die Frau ist gassig.“ – „Ist was?“ – „Gassig! Magen voller Gas!
Alles Gas raus, rülpsen in einer Tour und stinken aus Hals wie totes Tier nach drei Wochen in Sonne! Rülpsen in einer Tour, Mamamia.“ – „Mein
Gott, bist du primitiv!“, blökte die andere zurück.

Mir war das zu doof. Ich rollte ins Dienstzimmer zurück. Ein Pfleger fragte mich, ob ich einmal in die Aufnahme nach unten könnte. Da sei jemand im Rollstuhl, völlig aufgelöst. Die Ärztin, jene, mit der ich Anfang Dezember einen sehr netten Praktikumstag hatte, hätte nach mir gefragt. Etwa schon wieder die Brandverletzung? Bitte eilig. Ich eilte.

Das Weinen, oder war es eher ein aufgebrachtes Schreien, war bis draußen auf den Flur zu hören. Keine junge Frau, sondern ein junger Mann, 2. Klasse, hatte sich beim Toben auf dem Schulhof verletzt. Vermutlich den rechten Unterarm gebrochen, genaueres wusste man nicht. Auf den Kopf war er wohl nicht gefallen, äußere Verletzungen waren am Kopf jedenfalls nicht erkennbar, aber genau gesehen hatte es niemand. Und Kopfverletzungen bei ventilversorgtem Hydrocephalus sind gefürchtet und alles andere als lustig. Er war mit dem Rettungswagen eingeliefert worden. Er hatte sich vermutlich sehr erschrocken, war mit der Situation
überfordert, vielleicht wurde ihm auch gerade klar, dass er sich mit Gips in den nächsten Wochen überhaupt nicht alleine fortbewegen könnte. Nicht richtig schreiben. Und vor allem nicht alleine pinkeln. Die Schule
hatte die Mutter schon angerufen, aber noch nicht erreicht.

„Das ist ein Junge mit Spina bifida. Er weint nach seiner Mutter, die
ist aber erst in einer halben Stunde hier. MRT für den Kopf ist bestellt und wird in den nächsten zwanzig Minuten losgehen können, je nach Befund fliegen wir ihn weg, das soll er aber noch nicht wissen. Wenn der Kopf unauffällig ist, geht es erstmal zum Röntgen des rechten Unterarms. Der ist geschwollen und schmerzt, ist vermutlich gebrochen. Wenn nicht operiert werden muss, gipsen wir ihn hier und würden ihn hier
behalten und beobachten, es sei denn, die Mutter will ihn verlegt haben. Kannst du, ähm … ich dachte, du als Rollifahrerin?“ – „Ihm erstmal die Hand halten, bis die Mutter kommt? Klar.“ – „Der heult Rotz und Wasser. Guck doch mal bitte, ob du ihn beruhigt kriegst, so kriegen wir ihn nie und nimmer durch die Röhre und wir würden ihn ungern abschießen, weil wir nicht wissen, was da im Kopf los ist und was heute noch alles auf ihn zukommt.“

Okay, einmal tief durchatmen. Drei Sekunden überlegen, dann zusammen mit meiner Anleiterin auf in den Kampf. Was, wenn ich ihn auch nicht ruhig kriege? Ich schob den Gedanken zur Seite, machte die Tür auf, rollte in den Raum. An der Seite stand ein Kinderrollstuhl. Auf der selbst gestalteten Speichenblende war unter anderem sein Vorname, Jan, aufgemalt. Und mehrere Logos eines großen Fußballvereins. Ich rollte neben ihn, er lag auf dem Rücken der Untersuchungsliege, heulte noch immer lautstark vor sich hin und guckte die Zimmerdecke an. Meine Anleiterin trat hinter das Kopfende zurück und verschwand damit erstmal aus seinem Sichtbereich. Der rechte Arm war verletzt, ich legte meine Hand auf seine linke Hand. „Na, du bist Jan, oder? Ich bin Jule. Kannst du mir mal erzählen, was dir passiert ist? Wolltest du eine Runde fliegen? Das habe ich mit meinem Rolli neulich auch probiert – hat aber nicht geklappt.“

Rolli? Schlagartig hatte ich seine Aufmerksamkeit. Er drehte seinen Kopf zu mir, hielt beinahe die Luft an. „Coolen Speichenschutz hast du. Mit dem coolsten Fußballverein der Welt drauf“, fuhr ich fort. Er hatte tatsächlich aufgehört, laut zu weinen, schluchzte nun mit bebender Unterlippe vor sich hin. Ich sagte: „Hast du dich auf die Fresse gepackt? Kann doch mal passieren, oder? Ich hab mich neulich auch abgelegt, mitten in der Fußgängerzone. Tausend Leute wollten mir wieder in den Stuhl helfen, ich wäre am liebsten gestorben, so peinlich war das. Da war so eine scheiß Kante, die hab ich nicht gesehen und zack! Lag ich mit dem Gesicht im Dreck.“

„Ich hab mich rausgedreht“, schluchzte er. „Volle Kanne inne Kurve, ich wollte jemanden ticken, und dann bin ich rückwärts über die Seite umgekippt. Und dann wollte ich mich mit der Hand auffangen und seitdem tut das weh. Richtig fies weh.“ – „Bist du mit dem Kopf auf den Boden geknallt?“ – „Nicht doll.“ – „Hinten?“ – „Nein, an der Seite. Hier.“ – „Auf das Ventil?“ – „Nein, das ist auf der anderen Seite. Außerdem war es nicht so doll.“ – Darf ich dir mal in die Augen leuchten? Ich würde gerne mal gucken, ob mit deinem Kopf alles in Ordnung ist.“ – Ich blickte kurz zu meiner Anleiterin. Die nickte. Es war zwar im Raum sowieso schon recht hell, aber eine seitengleiche Pupillenreaktion war zu erkennen. „Kannst du mal bitte meinem Finger hinterher gucken, aber dabei den Kopf ruhig halten?“, fragte ich ihn. Machte er. In alle Richtungen, schluchzend. 2., 3., 4. und 6. Hirnnerv waren damit unauffällig. Ich holte einen Holzspatel. Und einmal „A“ sagen bitte. Meine Anleiterin meinte: „Nur gucken, nicht triggern, okay?“ – Dachte sie, ich würde bei unklarem Druck um Kopf unnötig Würgereize auslösen? Ich guckte mir Gaumen und Zäpfchen an. Sah alles unauffällig aus. Für den ersten Moment sollte das reichen.

„Das sieht alles gut aus“, beruhigte ich ihn weiter. „Hast du Kopfschmerzen? Übelkeit? Nackenschmerzen? Oder siehst du was doppelt?“ –
Er schüttelte den Kopf: „Nein. Alles nicht.“ – „So von Rollifahrerin zu
Rollifahrer würde ich aber trotzdem mal vorschlagen, dass wir einmal ein Röntgenbild von deinem Kopf machen, um zu gucken, ob dein Gehirn noch drin ist.“ – „Haha.“ – „Nee, echt, ein Bild sollten wir machen. Ob der Schlauch noch am richtigen Ort sitzt und so. Okay? Warst du schon mal beim Röntgen?“ – „Klaro!“ – „Dann kennst du das ja. Ich würde mitkommen und wir machen das zusammen. Ich komm nur nicht mit aufs Bild.
Einverstanden?“ – „Ja, meinetwegen“, sagte er betont genervt. Meine Anleiterin hob vor seinem Kopfende den Daumen. „Willst du eine einfache Aufnahme oder gleich ein Video?“ – „Kann man auch ein Video machen?“ – „Klar, wir haben ein ganz modernes Gerät, das kann sogar Videos. Kannst du dir dann hinterher angucken. Das kennst du bestimmt auch schon. Du legst dich auf eine Liege und wirst dann mit dem Kopf in eine Röhre geschoben.“ – „Das ist aber nicht die, wo das so laut donnert, oder?“ – „Doch, die, wo man Kopfhörer aufkriegt.“ – „Oh nee, die ist nervig. Da muss man immer die Luft anhalten und sowas.“ – „Denkst du, du wirst es überleben?“ – „Wenn ich mich ganz doll zusammenreiße, könnte es klappen.
Gerade so.“ – „Also abgemacht?“ – „Na gut.“ – „Schlag ein. Aber heute mal mit links.“

Er wurde mit seiner Liege über den Flur geschoben. Ich rollte nebenher. „Hast du auch Spina oder was anderes?“, fragte er. Ich antwortete: „Ich hatte einen Unfall. Ich bin mal angefahren worden vom Auto, auf dem Schulweg. Da war ich 15.“ – „Wie alt bist du denn jetzt?“ –
„22, und du?“ – „Rate mal.“ – „Neun?“ – „Nein, ich werde acht.“ – „Ich hätte gedacht, du bist schon neun. Ich finde, du wirkst schon älter.“ – Ab Einschulung sind die meisten Kinder erfahrungsgemäß stolz, wenn sie für älter gehalten werden. Davor sind sie eher stolz, wenn sie erklären können, dass sie schon viel älter sind als man vermutet hatte – man darf
es nur nicht übertreiben…

Vor dem Raum mit dem Magnetresonanztomografen mussten wir kurz warten. Jan musste auf eine andere Liege, mit der er in den Raum gerollt
werden sollte, ich selbst würde mir auch etwas einfallen lassen müssen.
„Möchtest du, dass ich mit reinkomme? Mein Rollstuhl darf nämlich nicht
mit den Raum.“ – „Warum nicht?“ – „Weil da Metall drin ist und das stört das Gerät. Schaffst du das ohne mich und ich warte auf dich hier oder soll ich fragen, ob sie mich da reintragen?“ – „Nee, nicht solchen Zirkus, warte du hier.“

Ich durfte mir die Bilder mit ansehen, während Jan das Gedröhne tapfer über sich ergehen ließ. Wie immer: Spannend. Ein drainagiertes Gehirn hatte ich vorher noch nicht live gesehen. Beurteilen konnte ich da natürlich nichts, aber die beiden Ärzte, die extra dazugekommen waren, meinten, das sei alles unspektakulär. Also ging es nach gut zwanzig Minuten weiter zum Röntgen und zum Glück war der Bruch auch nicht kompliziert. Am Ende war der Arm in Gips, als die Mutter sehr aufgeregt herein kam. „Jan, was machst du denn? Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ist mit deinem Kopf alles in Ordnung?“, fragte sie und fiel ihm um den Hals. Jan hatte ganz andere Probleme: „Ich war gerade in
der Röhre. Ist alles in Ordnung, Mama, musst dir keine Sorgen machen. Wusstest du eigentlich, dass es auch Ärzte im Rollstuhl gibt? Das ist Jule und die ist richtig gut! Und bei Ärzten bin ich ein Experte.“ – Bevor ich was sagen konnte, kam die Mutter auf mich zu, drückte mir mit beiden Händen die Hand und meinte: „Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie sich so gut um Jan gekümmert haben. Ich bin noch ganz außer Atem. Was ist denn überhaupt passiert?“ – Ich antwortete: „Ein bißchen dauert es bei mir noch, bis ich fertige Ärztin bin, Jan. Aber dein Expertenlob finde ich richtig toll. Ich dachte halt, ich kümmere mich mal ein bißchen um dich, denn wir Rollifahrer müssen doch zusammenhalten.“ – „Genau“, sagte er und streckte mir seine linke Hand zu einem High-Five entgegen.

Ich wechselte einen Blick mit meiner Anleiterin, sie grinste über das
ganze Gesicht, dann erzählte ich: „Jan war auf dem Schulhof beim Toben mit dem Rollstuhl umgekippt. Beim Spielen, wie so etwas halt passiert. Um nicht auf den Kopf zu fallen, hat er sich mit der Hand abgefangen und
hat sich einen unkomplizierten Bruch der rechten Speiche zugezogen. Der
Bruch wurde geröntgt und ruhig gestellt. Wegen der Vorgeschichte im Kopf und der zunächst unklaren Kopfbeteiligung haben wir uns entschieden, eine Magnet-Tomographie des Kopfes zu machen und einen Experten hinzuzuziehen. Jan war anfangs sehr aufgeregt und konnte den Sturzverlauf nicht genau beschreiben. Die Untersuchung der Hirnnerven und die Bilder des Kopfes und der Ventildrainage sind allerdings unauffällig.“

„Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Alles gut, alles richtig gemacht“, sagte die Mutter. Jan sagte: „Ich bin mit dem Rettungswagen hergebracht worden. Mit Tatütata.“ – Die Mutter drückte ihn an sich. Ich
sagte: „Die Lehrerin war sehr besorgt und besser so, als wenn da irgendwas übersehen wird.“ – „Ist völlig richtig“, sagte die Mutter. „Ich war nur sehr erschrocken, weil man mir nur sagen konnte, dass er mit dem Rettungswagen weggebracht wurde. Das kann ja alles heißen.“

Während meine Anleiterin den Brief tippte, erzählte mir Jan vom Sport, von seinem Hund, von einem Boot, mit dem er im Sommer immer fährt. Und fragte mich, ob ich gerne laufen können würde. Am Ende bekam er seinen Brief ausgedruckt und durfte nach Hause. Die Mutter wurde aufgefordert, auf Symptome zu achten, die im Zusammenhang mit einer Gehirnerschütterung (die ja nahezu ausgeschlossen werden konnte) oder zunehmendem Hirndruck auftreten können. Als die Mutter weg war, sagte meine Anleiterin: „Der war ja süß! Und der ist voll auf dich abgefahren!
Erster Preis für gute Arbeit, Jule.“ – Wow. Das geht natürlich runter wie Öl. Und während ich noch ein wenig auf der Wolke schwebte und mir toll vorkam, musste ich zurück auf die Station – und wurde jäh Zeugin, wie die beiden Frauen aus Zimmer 9 sich lautstark darüber stritten, ob „Anwälte im Einsatz“, „Hilf mir, ich bin jung, pleite und verzweifelt“ oder „Der Trödeltrupp – das Geld liegt im Keller“ im Fernsehen geguckt werden sollte. Was gibt es doch für Probleme auf dieser Welt.

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert