Vollmond oder Orkan

Es war der erste große Orkan in diesem Jahr. Einer von jenen, die jedes Jahr im Januar über Hamburg hinweg fegen. Mit Sturmflut. Nicht wirklich bedrohlich, es wurden zwar einige Fluttore geschlossen, aber die Deiche hatten noch locker vier Meter Luft nach oben. Fester im Griff hatten Hamburg umgestürzte Bäume, die auf Gleise oder Oberleitungen fielen. Am gestrigen späten Nachmittag kam der gesamte Fern- und U-Bahnverkehr zum Erliegen, im Hauptbahnhof stapelten sich die Reisenden, nichts ging mehr. Zu unserem großen Glück waren wir rechtzeitig vorher angekommen und konnten uns gerade noch so aus dem Staub machen, bevor das wirkliche Chaos losging.

Einen Magneten für die Auswirkungen gefährlicher Wetterlagen habe ich also nach wie vor nicht irgendwo eingenäht. Wohl aber den für komische Leute. Und so wundert es nicht, dass mal wieder etwas Kurioses passierte, als Marie und ich auf den beiden Rollstuhlplätzen saßen, im Wagen 9 des ICE. Die Plätze sind am Ende eines Großraumwagens, wobei man zwischen den Plätzen und der begrenzenden Wand einfach eine Zweier-Sitzreihe ausgespart hat. Marie und ich setzten uns also auf diese beiden Sitzplätze, hatten unsere leeren Rollstühle vor uns stehen – und wenn wir es sehr bequem wollten, legten wir unsere Füße auf die Sitzfläche des Rollstuhls. An der gegenüberliegenden Abteilwand sind noch zwei Notsitze angebracht. Mit Stoff bezogene Klappsitze mit recht kurzer Sitzfläche, die im Notfall für Begleitpersonal oder wen auch immer herunter geklappt werden können und sofort bei Verlassen automatisch wieder hochklappen.

An einen dieser hochgeklappten Sitze hatte sich ein Mann gelehnt, geschätzt 45, schlanke Figur, kurze Haare. Sein Popo war am oberen Ende der hochgeklappten Sitzfläche, die Beine hatte er lässig überkreuzt und ein wenig entlastet. Er trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug, ein weißes Oberhemd und eine merkwürdig gemusterte Krawatte, hatte schwarze, auffällig spitze, glatt polierte Lederschuhe und einen großen Wecker am
Handgelenk. Auffällig war neben seinen spitzen Schuhen auch seine Körpergröße, die zwei Meter dürfte er überschritten haben, und ein verhältnismäßig kleiner Kopf. Dieser Mann starrte mich aus der Entfernung von etwa drei Metern an. Er hatte in dieser Ecke an diesem Sitz eigentlich überhaupt nichts verloren. Da geht auch niemand hin, der auf dem langen Weg von der zweiten in die erste Klasse einen Moment verschnaufen möchte. Auch einen Feuerlöscher sucht man in der Ecke vergebens. Kurzum: Er stand dort, um zu starren.

Ich kann nicht sagen, wie lange er dort schon stand. Ich hatte geschlafen. Marie eigentlich auch. Aber plötzlich hörte ich ihre Stimme:
„Und was kann ich für Sie tun?“ – Solche Sätze sagte sie nur, wenn irgendwas im Busch ist, von daher musste ich nur noch die Augen öffnen und entdeckte diesen Mann. Ohne ein Wort guckte ich Marie an. Ohne ein Wort guckte Marie mich an. Dann guckte ich wieder zu diesem Mann. Er starrte noch immer. Unheimlich. Was für ein Freak war das? Wieso starrte er so?

Ich starrte eine Zeitlang zurück. Manchmal bringt das was. In diesem Fall nicht. Ich fragte: „Möchten Sie was von uns?“ – Er antwortete nicht, sondern starrte nur. Ich fragte noch einmal: „Oder sind wir gerade unfreiwillig Teil eines psychologischen Experiments?“ – Wieder keine Antwort. Da wir im Übergang zur ersten Klasse saßen, lief ständig Zugpersonal vorbei, das Bestellungen am Platz aufnahm und Essen, Getränke sowie leere Teller durch die Gegend trug. Nach einiger Zeit krallte sich Marie eine Frau, die vorhin unsere Fahrkarten kontrolliert hatte und eigentlich in Windeseile vorbei zischen wollte. „Tschuldigung, würden Sie uns bitte einmal helfen, es geht um den Herren hier, der hat sich vor einiger Zeit vor unseren Sitzplätzen aufgestellt und starrt uns seitdem an. Ich finde das sehr unangenehm und ich wüsste gerne, was er von uns will. Mit uns redet er aber nicht.“

Die Bahnmitarbeiterin antwortete: „Kleinen Moment, ich komme gleich zu Ihnen, ja? Eins nach dem anderen.“ – Und weg war sie. Um schon nach etwa zwanzig Sekunden wieder aufzutauchen, mit ihrem Kollegen im Schlepptau. „Der Herr hier“, sagte sie. Der Kollege sagte: „Guten Tag, Ihre Fahrkarte hätte ich gerne mal gesehen, bitte.“ – Keine Reaktion, der Typ starrte mich weiter an. Der Bahnmitarbeiter tippte ihm an die Schulter und fragte: „Hallo?“ – Jetzt bewegte er sich, griff in Zeitlupe, ohne den Blick von mir zu wenden, in seine Jackettasche und holte etwas heraus, reichte es dem Bahnmitarbeiter. Dann, wenige Sekunden später, kniff er die Augen halb zusammen und dann endlich guckte er den Bahnmitarbeiter an. Argh! Psycho!!!

„So, ich habe gehört, Sie belästigen die Frauen hier. Stimmt das?“ – Ich merkte, wie das Germurmel in den Sitzreihen hinter mir schlagartig verstummte. Der Mann antwortete: „Wer sagt denn sowas?“ – Ah, eine Stimme hatte er auch. Der Bahnmitarbeiter: „Ich habe Sie was gefragt. Und zwar, damit ich von Ihnen eine Antwort bekomme und keine Gegenfrage, klar? Also: Belästigen Sie die Frauen hier?“ – „Nein!“ – „Na, dann können Sie jetzt ja weitergehen. Sie haben in dem Wagen hier nichts mehr verloren. Haben Sie das verstanden?“ – „Kann ich meine Fahrkarte wiederhaben?“ – „Wenn Sie jetzt gehen, ja. Da durch die Tür.“

Er stiefelte nach draußen. Der Bahnmitarbeiter ging bis zum Gang, guckte ihm einen Moment lang hinter her, drehte sich wieder zu uns und sagte: „Das liegt an dem Sturm heute. Manche Menschen können mit den Luftdruckschwankungen nicht gut umgehen. Vollmond oder Orkan, egal, und alle drehen durch.“ – „Der war voll unheimlich!“, sagte Marie. Der Bahnmitarbeiter antwortete: „Ja, ich weiß ja jetzt, wie er aussieht. Wenn der hier nochmal über den Flur läuft, komm ich gleich hinterher gehüpft.“

Gehüpft? Vor meinem inneren Auge stellte ich mir unfreiwillig diesen Bahnmitarbeiter im Spiderman-Kostüm vor, wie er von Fenster zu Fenster durch den Gang sprang. Zum Lachen war mir aber gerade nicht zumute. Ein paar Minuten später schrieb Marie ihrem Papa eine SMS: „Kannst du uns vom Bahnhof abholen? Hier ist ein ganz komischer Mann im Zug, der uns belästigt. Hat Jule minutenlang angestarrt und musste vom Zugchef verscheucht werden.“ – Es dauerte keine Minute, da klingelte ihr Handy. Ob er jetzt weg ist, wollte er wissen, und wann unser Zug ankommt. Ein wenig neidisch bin ich ja schon. So einen Papa hätte ich auch gerne. Oder wenigstens einen großen Bruder. Manchmal. Aber wenn Marie so eine Bitte versendet, dann ist auch was los. Marie würde sich eher drei Stunden lang über einen Kilometer frischen Schnee quälen als jemanden zu
belästigen, der sie zehn Minuten schiebt.

Das Manöver war am Ende überflüssig, weil der Freak im Zug sitzen blieb als wir ausstiegen. Aber das wussten wir natürlich vorher nicht – ebensogut hätte er auch aussteigen und bis nach Hause hinter uns herlaufen können. Wobei wir dann wohl weniger direkt nach Hause, sondern vielmehr direkt zur Sicherheitswache im Bahnhof gerollt wären. Ich hoffe nur, er sitzt nicht noch einmal mit uns im Zug. Bei meinem Glück treffen wir uns noch einmal wieder.

Eigentlich haben wir das auch schon. Heute in den frühen Morgenstunden habe ich von ihm geträumt. Er starrte wieder. Minutenlang.
Ich bin vor ihm weggelaufen (!), er rannte hinter mir her und am Ende standen wir zusammen in einem Aufzug. Dann wollte er die Hand auf meine Schulter legen, ich wollte schreien, und in dem Moment, als seine Hand mich berührt hätte, zuckte ich zusammen und wachte auf. Marie lag neben mir und murmelte: „Was träumst du denn schon wieder?“ – „Von dem Freak im Zug. Der war mit mir im Aufzug.“ – Schlaftrunken zog mich ihr Arm an sie heran. „Der Typ ist weg“, meinte sie. Eine halbe Stunde lang lag ich bestimmt wach im Bett. Am Ende bin ich dann aber doch nochmal eingeschlafen.


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