Grippale Infekte und zwei Impfungen

Ich glaube, ich habe noch nie so viel gelernt innerhalb so kurzer Zeit wie in den letzten Tagen. Die Praxis von Maries Mama ist ja schon immer sehr unterhaltsam und interessant, aber eine Kinderarztpraxis, in der ich gerade den ersten Teil meiner Famulatur ableiste, stellt alles in den Schatten. Sehr eindrucksvoll, sehr herausfordernd, teilweise sehr emotional. Und Kinder sind ja sowieso nochmal völlig anders als Erwachsene. Eben nicht nur kleiner.

Am ersten Morgen sollte ich mich gleich hinter den Empfangstresen setzen und die Praxis kennenlernen. Das war keine große Herausforderung, das ist bei Maries Mutter deutlich anspruchsvoller. Nach zwei Stunden wollte die Chefin, dass ich ihren Job übernehme und sie mir dabei über die Schulter guckt. Das war der Sprung ins kalte Wasser und damit klar eine große Herausforderung, zumal ich die Patienten überhaupt nicht kannte, bisher kaum etwas mit Kindern zu tun hatte und vor allem auch die Ärztin nicht kannte.

Meine erste Patientin war ein sechsjähriges Mädchen mit grippalem Infekt. Hatschi *sprüh*. Sie war sehr tapfer, ließ alles mit sich machen, auch doppelt. „Ich möchte aber keine Spritze, lieber trinke ich irgendwas ekliges“, meinte sie. „Spritze gibt es heute nicht, versprochen“, sagte ich und war schlagartig die beliebteste Person im Raum. Während die Mutter mit mir eine Diskussion anfing, warum es am Tag 3 der Erkältung noch kein Antibiotikum gibt, bestaunte das Mädchen meinen Rollstuhl. Einen Finger nervös an den Lippen spielend, fragte sie
irgendwann: „Sind Sie mal aus dem Fenster gefallen?“ – „Nein, ich bin vom Auto angefahren worden. Auf dem Schulweg.“ – „Hat das weh getan?“ – „Nein, ich habe was gegen die Schmerzen bekommen, aber ich musste ganz lange im Krankenhaus bleiben.“ – „Können Sie gar nicht mehr laufen?“ – Ich schüttelte den Kopf. Und fragte: „Wie kommst du darauf, dass ich aus dem Fenster gefallen sein könnte?“ – „Meine Mama sagt immer, ich soll nicht auf die Fensterbank klettern, wenn ich da rausfalle, muss ich im Rollstuhl sitzen.“ – Ich guckte die Mutter an, die bekam ein knallrotes Gesicht. „Auf Fensterbänke zu klettern ist wirklich nicht ungefährlich“, sagte ich.

Die beiden waren wieder draußen, die Tür war zu. „Das war gut“, lobte meine Chefin. „Alles richtig gesehen, an alles gedacht, Entscheidung gegen das Antibiotikum war richtig, vielleicht könnte man zusätzlich noch erklären, warum es noch kein bakterieller Infekt sein kann.

Patient Nummer zwei kam alleine und war 12. Hielt sich mit einer Hand an seinem Bauchnabel fest. Er hat seit heute morgen Durchfall. Ganz heftig mit viel Bauchweh. Ob er gekotzt hat, wusste er nicht. Häh? Das wäre etwas, woran ich mich doch auf jeden Fall erinnern würde. Ich fragte, was er gegessen hat. „Das kommt nicht vom Essen“, sagte er. Ich fragte: „Sondern?“ – „Keine Ahnung, bin ich der Arzt?“ – Ich fragte zurück: „Werden wir gerade ein wenig kiebig?“ – „Nö. Kann man eigentlich feststellen, ob jemand Bauchweh hat? Nur mal so aus Interesse…“ – Nachtigall, ick hör dir trapsen. Wie auf Kommando log ich: „Klar. Beim Abhören. Wieso? Willst du das selbst auch mal hören?“ – „Nee nee. Also im Moment sind sie ja auch nicht da.“ – Meine Chefin: „So, nun mal Klartext, junger Mann. Schule verpennt, Schwänzverbot und jetzt brauchst du ein Attest, oder was?“ – Bingo. Nach drei Minuten rumdrucksen rückte er mit der Sprache raus. Hausaufgaben nicht gemacht und heute morgen so viel Schiss bekommen, dass er auf dem Weg zur Schule zum Kinderarzt rechts abgebogen ist. Hatte aber mit 12 schon eine Attest-Auflage. Sowas hatte ich irgendwie nie.

Ein grippaler Infekt nach dem nächsten … immer wieder das gleiche Spiel. Warum gibt es nicht sofort ein Antibiotikum? Einige der kleinen Würmer waren echt übel dran. Klasse fand ich ein kleines Mädchen, das privat versichert war. Mama hatte gleich eine ganze Liste dabei, was sie alles verordnet haben wollte. Einschließlich Hustenbonbons und Mentholcreme. Als sie wieder draußen waren, meinte meine Chefin: „Die scheinen ohne Selbstbehalt versichert zu sein. Oft werden bei privat versicherten Leuten erst drei- oder vierstellige Beträge übernommen. Bei einigen aber auch nicht, und die haben dann oft solche Einkaufslisten dabei.“

Zwei Kinder durfte ich impfen. Beide waren beinahe zwei Jahre alt. Der erste Junge roch den Braten schon sehr früh, weil die Mutter extrem aufgeregt war und immer wieder erklärte, dass nichts schlimmes passieren würde. Oarrrr! „Guck mal, du kriegst gleich deine Spritze, da brauchst du gar nicht weinen, weil das sofort vorbei ist!“ – „Ich will keine Spritze!“ Kreisch, strampel, plärr. Also nahm ich den kleinen Spatz auf den Arm, setzte ihn bei mir auf den Schoß und rollte mit ihm eine Runde durch das Sprechzimmer. „Gut festhalten, sonst fällst du runter“, meinte
ich. Junior hörte auf zu krähen, hielt sich sitzend mit beiden Händen an meinen Hosenbeinen fest und fand das Manöver toll. Meine Chefin machte kurzen Prozess – ein kurzer Angriff aus der Deckung und *zack* war alles vorbei. Mit großen Augen guckte er mich an, bevor das Geschrei erneut losging.

Mit dem zweiten Jungen spielte ich ein anderes Spiel. Während er bei Papa auf dem Schoß saß und mich mit großen Augen anguckte, machte ich Faxen. Rollte mit den Augen, steckte ihm die Zunge raus. Guckte dann entsetzt. Der Junge fing an zu lachen. Ich piekste ihn ein paar Mal mit meinen Fingern. Mal am linken Arm, mal am rechten. Mal am linken Bein, mal am rechten. Sagte: „Arm. Arm. Bein. Bein. Arm. Arm. Bauch. Fuß. Nase. Po.“ – Wieder wurde ich mit großen Augen angeguckt. Nun machte ich es absichtlich falsch, tippte gegen den Arm und sagte: „Bauch.“ – Der Junge lachte. Papa mischte sich ein: „Nanu, was ist das für ein Blödsinn?“ – „Arm. Bein. Po. Papas Arm. Mamas Bein. Dein Fuß.“ – Gelächter. Alles durcheinander, *zack* war die Spritze drin. Während das
Kind noch überlegte, was passiert war, machte ich weiter. „Nase. Ohr.“ – Dann fing er doch an zu weinen. Ich nahm aufgeregt drei Taschentücher aus einer Box. Eins bekam Papa, eins ich, eins der Sohnemann: „Schnell, schnell, das verrückte Tränentier ist ausgebrochen! Wir müssen es einfangen!!!“ – Den kannte er auch noch nicht, guckte mich mit großen Augen an und entschied sich nun doch zu lachen. Wenigstens soll er mich trotz aller Gemeinheiten in halbwegs guter Erinnerung behalten.

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