Nachruf

Auf dem Weg zu Marie fuhren wir an einem öffentlichen Verwaltungsgebäude der Stadt vorbei, das nachts recht dezent angestrahlt
wird und vor dessen Eingang drei Fahnenmasten stehen. Die Hamburg-Fahne
hängt dort hin und wieder zusammen mit der des Bezirks, in dem das Gebäude steht. Am Christopher-Street-Day flatterte dort auch schon mal die Regenbogenfahne. Heute sah ich im Vorbeifahren aus dem Augenwinkel Europa, Deutschland und Hamburg – alle drei auf Halbmast. Nach der dreitägigen Staatstrauer um die ermordeten Mitarbeiter von Charlie Hebdo
Mitte des Monats und dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar ist das nun der dritte Anlass innerhalb so kurzer Zeit. Auch Maries Mutter sah das und fragte: „Was ist denn jetzt schon wieder los?“

Richard von Weizsäcker ist gestorben. Den ehemaligen Bundespräsidenten (1984 bis 1994) habe ich selbst nicht in seinem Amt wahrgenommen. Als er sein Amt an Roman Herzog abgab, war ich gerade mal ein Jahr und zehn Monate auf der Welt. Aber Maries Eltern waren beide sichtlich bewegt, als sie davon erfuhren. „Das war ein Guter“, meinte Maries Papa. Und erzählte.

„Lassen Sie uns die Behinderten und ihre Angehörigen auf ganz natürliche Weise in unser Leben einbeziehen. Wir wollen ihnen die Gewißheit geben, daß wir zusammengehören. Damit helfen wir nicht nur ihnen, sondern auch uns selbst. Denn wir lernen im Umgang mit ihnen wieder zu erkennen, was wirklich wichtig ist im Leben.“, sagte er in seiner Weihnachtsansprache 1987, also vor nunmehr fast 30 Jahren, und regte dabei zum Nachdenken an, ob „wir vielleicht mit eigenen Hemmungen gegenüber Behinderten nicht fertig“ werden.

Ist das erst dreißig Jahre her? Hat wirklich ein Bundespräsident, noch dazu ein guter, diese Worte an das Volk gerichtet, um dafür zu werben, dass Menschen mit Behinderung nicht mehr ausgegrenzt werden?

Ich will das gar nicht kritisieren. Sondern nur für mich realisieren.
Eine solche Ansprache wäre heute kaum mehr vorstellbar. Sofort würde eine Stinkesocke in ihrem Blog rumnörgeln, dass „wir“ in „euer“ Leben nicht einbezogen werden wollen, schon gar nicht als Alibi, aus Hilfsbedürftigkeit oder zu einem guten Selbstzweck – schließlich sind wir ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft. Heute. Oder zumindest morgen.

Aber damals eben nicht. Damals gab es auch keine Blogs. Damals gab es
noch nicht einmal das World Wide Web. Zumindest nicht in der für jeden Bürger zugänglichen Form. Damals hätte ich mir eine andere Möglichkeit suchen müssen, nach einem schweren Unfall weiter zu leben. Ich bin mir nicht sicher, ob und wie es mir gelungen wäre.

„Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann.“

So ging die oben erwähnte Weihnachtsansprache weiter. Und dieser Satz
von ihm wird häufig zitiert. Mit „Behinderung“ meinte er damals nicht die heutige Definition des Wortes, nämlich die Wechselwirkung einer persönlichen Beeinträchtigung mit den Barrieren der Umwelt, sondern eben
„nur“ die persönliche Beeinträchtigung – wie es damals üblich war. Und ich glaube auch nicht, dass es aus heutiger Sicht glücklich ist, mir als
Rollstuhlfahrerin vorstellen zu müssen, dass mir jemand ein Geschenk genommen hat. Ich persönlich würde also eher auf eine kämpferische Formulierung ansprechen, auf eine, die von meiner Person eine Antwort auf eine Herausforderung erwartet.

Aber ich bin und war nicht angesprochen. Sondern ein Volk, das Menschen mit Behinderung ausgegrenzt hat. Und das von seinem Bundespräsidenten aufgefordert werden musste, diese Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen.

Was genau seine Worte bewegt haben, lässt sich nicht feststellen. Was
sich jedoch genau feststellen lässt, ist die Richtung, die seine Worte vorgeben. Auf diese Vorgabe lässt sich heute, nach so viel Veränderung in unserer Gesellschaft, noch auf einer geraden Linie zurückblicken. Und
das finde ich toll.

Dass ich mich als Teil der Gesellschaft fühle, dass ich gleichberechtigt dazu gehöre, so wie ich bin, ist nicht nur ein Verdienst. Sondern auch ein Geschenk, das der Gesellschaft hoffentlich niemand mehr nimmt. Danke, Richard von Weizsäcker.

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