Am zweiten Tag meiner Famulatur in der Kinderarzt-Praxis sollte ich
ein Sprechzimmer übernehmen, meine Chefin das andere. Und bei jedem Patienten am Ende die Therapie einmal mit ihr abstimmen. Gleich als erstes kam ein Mädchen zu mir, gerade 13 Jahre alt. Zerrissene Jeans, Wollpulli, Lederjacke über dem Arm. Blonde Haare akkurat geflochten. Blasse Gesichtsfarbe, dünne Arme und Beine, im Gesicht sah sie aus wie ein zerbrechliches Porzellanpüppchen. Sie wirkte einerseits sehr schüchtern, andererseits begrüßte sie mich gleich mit einem „Moinsen“. Ich musste grinsen. Ich sagte ihr, was ich jedem sagen muss, nämlich dass ich Famula(ntin), also quasi Praktikantin bin. „Cool“, meinte sie, „vielleicht studiere ich später auch mal Medizin. Aber den N.C., den man
dafür braucht, werde ich wohl nie erreichen. Schaun wir mal. Ich will aber gar nicht lange den Betrieb aufhalten, ich brauche meine Drogen und
vor allem einmal neue Theophyllin-Ampullen, und dann bin ich auch gleich wieder weg.“
Ein 13 Jahre altes Mädel will was?! Ich ließ mir meine Irritation nicht anmerken, rief mir ihre Akte auf. Asthmatikerin, reagiert auf Erdnüsse, Nüsse und Penicillin mit einer Anaphylaxie (also einem lebensbedrohlichen allergischen Schock). Letzter Lungenfunktionstest wurde vor kurzem vom Facharzt gemacht, letzte medizinische Reha in Süddeutschland im letzten Sommer. Behindi-Ausweis mit einem Grad von 100, dazu eine amtliche Feststellung über „Hilflosigkeit im Kindes- und Jugendalter“, ein Attest für die Teilnahme am Wettkampfsport. Reiten. Bevor ich ins Blättern kommen würde, lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen. „Was brauchst du genau von dem ganzen Gedöns hier?“, fragte ich sie und deutete auf den Monitor. „Also, Salbutamol habe ich immer mehrere Sprays gleichzeitig im Gebrauch, damit ich das nirgendwo liegen lasse, da bräuchte ich eine neue Packung. Das Fluticason habe ich nur zu Hause, da ist das letzte Ding gerade angebrochen. Das bräuchte ich also auch einmal. Salmeterol hab ich noch zwei Sprays verschlossen zu Hause liegen. Das reicht, sonst wird das schlecht. Und dann brauche ich noch die Theophyllin-Ampullen.“
„Hast du die schon mal bekommen?“ – „Ja, aber erst zwei Mal gebraucht. Da waren fünf Ampullen in der Packung, eine habe ich immer im
Rucksack, falls ich einen großen Anfall bekomme, der auf Salbutamol nicht anspricht. Gerade beim Reiten kann es ja dauern bis der Notarzt da
ist, da trinke ich dann eine halbe Ampulle. Ist besser als wenn ich blau werde.“ – Ich schluckte. Sie fuhr fort: „Eine Ampulle war mal in einem Rucksack drin, der geklaut wurde, jetzt hat meine Mutter noch eine
zerbrochen, als sie meine nassen Stiefel fallen gelassen hat und nun habe ich nur noch die eine. Das ist mir zu riskant.“ – „Klar.“ – Es klopfte, die Chefin kam rein. Das Mädchen stand auf, begrüßte sie mit einem sportlichen Handschlag. Sie fragte: „Na, kommt ihr klar?“ – „So halb“, antwortete ich. „Ich stell mich gerade ein bisschen doof an.“ – Meine Chefin setzte sich neben mich und übernahm die ganze Sache. Das Mädchen erzählte erneut. „Hast du dein Tagebuch dabei? Kann ich es einmal sehen bitte? Und dann würde ich gerne noch einmal auf Lunge und Herz hören.“
Als das Mädchen wieder draußen war, bekam ich Tipps, von denen ich einen so kürzlich schon einmal sehr deutlich gehört hatte. „Drei Dinge. Erstens: Begegne der Reife und der Größe eines Kindes immer mit Respekt,
aber lass dich davon nie emotional mitnehmen. Zweitens: Du führest Regie und bestimmst, was passiert. Der Patient darf fragen, aber nie fordern. Drittens: Selbst wenn dich die Erkrankung des Patienten überfordert, der Patient soll sich bei dir gut aufgehoben fühlen und dir
vertrauen. Daher gib ihm zumindest das Gefühl, dass du genau weißt, was
du tust.“
Ich habe das erstmal so geschluckt, damit es im Programm weiter geht.
Die restlichen Patienten waren durchweg Atemwegsinfekte und damit eine gewisse Routine. Na klar hat mir dieses Mädchen imponiert. Wenn ich mir vorstellen sollte, ständig hochpotente Notfallmedizin mit mir rumschleppen zu müssen, damit ich bei einem Ausritt in den Wald nicht über die Wupper springe, hätte ich schon zu knabbern. Das Mädel ist aber
gerade mal in der 5. Klasse. Aber ich fand nicht, dass ich sie unnormal
behandelt habe. Das mit der Regie habe ich schon einmal gehört – ich darf mir die Leitung der Veranstaltung nicht aus der Hand nehmen lassen.
Ich arbeite dran. Aber ich fand auch nicht, dass ich das getan hatte. Zumindest nicht so extrem, dass sie mir zu nahe gekommen wäre oder mir das Gespräch aus der Hand genommen hätte. Und das mit dem Gefühl … da bin ich mir sehr unsicher. Gerade als Frischling kann ich nicht auftreten als hätte ich die Weisheit mit Löffeln gefressen. Ich halte es
eigentlich für sinnvoller, dem Patienten zu vermitteln, dass man ihn ernst nimmt. Also auch wenn ich vielleicht gerade nicht weiß, ob ich einem Kind Theophyllin in die Hand drücken darf und ich von dieser Frage
völlig überrascht bin: Ich halte es für falsch, mit einem flüchtigen Blick in eine Anfallsstatistik und einem Abhören der Lunge im Normalzustand den Eindruck zu vermitteln, ich hätte alles im Griff.
Habe ich einfach nicht. Und ich möchte nicht in zwei Jahren vor Gericht stehen und die Frage beantworten, wieso ich leichtfertig einem Kind solche Medikamente ausgehändigt habe, mit denen es sich jetzt aus Versehen umgebracht hat. Ich möchte dann wenigstens begründen können, wieso ich mich so entschieden habe. Und selbst wenn ich durch einen Blick in ein Asthma-Tagebuch und durch das Abhören der Lunge ein wenig Zeit zum Überlegen gewonnen habe, ändert es nichts daran, dass ich überfordert war und gerne erstmal in Ruhe nachgelesen, nachgefragt oder zumindest nachgedacht hätte. Aber vielleicht fehlt mir letztlich nur noch eine generelle Routine, um schneller zu solchen Entscheidungen zu kommen.