Dass Menschen zum Arzt gehen, weil sie sonst niemanden haben, mit dem sie ihre Sorgen und Probleme besprechen können, ist kein Geheimnis. Das soll es auch nicht sein, im Gegenteil. Trotz aller Scham und allem Streben nach Perfektion setzt sich in der Gesellschaft allmählich zunehmend die Erkenntnis durch, dass nicht alle Menschen gesund sind und
dass es nicht nur körperliche Erkrankungen gibt. Wobei ich eine einfache, einmalige Ratlosigkeit nicht gleich als psychische Erkrankung ansehen würde. Dennoch gibt es viele Menschen, die alleine zu grübeln beginnen – über Fragen, von denen sie wissen, dass sie sie alleine nicht
beantworten können und über Probleme, von denen sie wissen, dass sie sie alleine nicht lösen können. Daraus kann sich schon etwas entwickeln,
was man dann nicht mehr im Griff hat. Das soll kein fachlicher Beitrag werden, sondern lediglich ein grob gefasster Aufhänger für eine Begegnung in jener Kinderarzt-Praxis, in der ich im Moment mein Pflichtpraktikum ableiste.
Von einer Elfjährigen, die inzwischen fest davon überzeugt war, Krebs
zu haben, weil ihr immer mal wieder große Mengen Blut aus der Vagina laufen, bekam ich nur erzählt. Sie hat eher halbherzig versucht, mit dafür ungeeigneten Tabletten ihrem Leben ein Ende zu setzen. Die Mutter habe, so meine Chefin, weder verstanden, in welchem Konflikt das Mädel sich befunden hat, noch welchen Anteil sie an dieser Eskalation zu tragen hatte. Wie kann es bitte sein, dass man seine eigene Tochter nicht auf die Regelblutung vorbereitet? Wie kann es bitte sein, dass die
Tochter nicht die richtigen Informationen findet und Antworten auf die Fragen bekommt, die sich in ihrem Kopf hin und her bewegen? Was für familiäre Strukturen sind es, die nicht mal ein Mindestmaß an Vertrauen ermöglichen? Warum schafft es die Mutter nicht, wenigstens ein Aufklärungsbuch zu verschenken, wenn ihr das selbst zu peinlich ist? Was
für Energie hat das Mädchen unbemerkt aufbringen können, damit die Sauerei, die eine Regelblutung gerade bei unerfahrenen Leuten verursachen kann, nicht entdeckt wurde?
Was so erschreckend ist: Das Mädchen hatte, im Gegensatz zu mir (meine Mutter hat mich auch nie aufgeklärt, ich bekam allerdings auch nicht mit 10 schon meine Regel) sogar Zugang zum Internet und sich wohl auch diverse Seiten ausgedruckt. Sie hat aber die Antwort immer schon vorgegeben, indem sie gleich nach Blut, Vagina und Krebs gesucht hat. Zwar war, so meine Chefin, immer ausdrücklich von „Blutungen außerhalb der Regel“ die Rede, aber wer nicht weiß, dass mit „Regel“ die Regelblutung gemeint ist und sprachlich auch noch nicht so gewandt ist, bringt „Blutungen außerhalb der Regel“ und „Krebs im Vaginabereich ruft in der Regel kaum Beschwerden hervor“ auf einen Nenner, obwohl einmal die Regelblutung und einmal der Regelfall gemeint ist. Der „Fall“ ist inzwischen einige Zeit her, das Mädchen hat es überlebt, das Jugendamt wurde eingeschaltet.
In der letzten Woche kam ein ebenso alter Junge in die Praxis. Während der Schulzeit. Es fiel ihm leichter, den Lehrern zu sagen, er müsse zu einem Arzttermin als mit seinen Eltern zu sprechen. Und die Lehrer ließen ihn gehen – ich hätte in der vierten Klasse auf jeden Fall
einen Zettel von meinen Eltern vorzeigen müssen, wenn ich während der Schulzeit alleine abhauen wollte.
Der Grund des Besuchs: Familiäre Probleme. Unlösbare. Aus Sicht des Kindes. Bis zur Anmeldung hat er es ohne Tränen zu vergießen geschafft, dann brach es aus ihm heraus. Meine Chefin nahm ihn relativ schnell dran, ich sollte und durfte dabei sein. So ein Notfall kann einem den ganzen Sprechstundenbetrieb sprengen. Aber was wiegt schon ein geordneter Praxisbetrieb gegen die Sorgen eines Kindes? Ich möchte mir jedenfalls nicht vorstellen, dass der Kurze sich hinterher draußen vor den Bus wirft. Muss ja nicht gleich sein, aber weiß ich das, wenn ich seine Sorgen nicht kenne?
Der Papa trinkt. Die Mama trinkt. Der Papa schlägt die Mama. Die Mama
verteidigt sich mit dem Brotmesser. Der Papa hat dem Sohn erklärt, dass
die Mama möchte, dass der Papa auszieht. Aus meiner Sicht wäre eine Trennung wohl auch die beste Lösung. Eine Beziehung, in der geschlagen und mit Messern hantiert wird, ist gescheitert. Nun instrumentalisiert der Vater das Kind, indem er ihm erzählt hat, dass das Kind ihn dann nie
wieder sehen kann. Er müsste sich eine andere Wohnung nehmen und würde in eine andere Stadt ziehen, zum Sitz seiner Firma, in der er derzeit im
Außendienst arbeitet. Der Sohn liebe seinen Vater, zumindest so sehr, dass er sich nicht plötzlich für immer von ihm trennen möchte. Er habe schon einen lieben Onkel (den Bruder des Vaters), den er nur selten sieht, obwohl er ihn so gerne mag. Der sei einfach cool. Seine Mutter sei anstrengend, alleine, ohne seinen Vater, sei das Zusammenleben kaum vorstellbar.
Ich kann nicht in allen Einzelheiten ausführen, was außerdem noch zur
Sprache kam. In Stichworten: Keine freie Verwendung des (spärlichen) Taschengeldes, er muss um Erlaubnis fragen, wenn er sich irgendwas von seinem Geld kaufen will. Keine freie Klamottenwahl, wobei es nicht darum
geht, Markenklamotten zu tragen, sondern wenigstens beim Einkaufen hinsichtlich Farbe und Form mitreden zu dürfen. Spielen mit Freunden nicht zu Hause, nur draußen und nur bis 18 Uhr. Keinerlei Intimsphäre: Selbst auf Klo würden die Eltern regelmäßig kontrollieren, was er gerade
anstelle. Meine Chefin erzählte, sie war einmal zum Hausbesuch dort: Er
teile sich mit seiner Schwester ein 5 Quadratmeter großes so genanntes „halbes“ Zimmer mit Etagenbett, Schrank und Schreibtisch. Die Wohnung liegt in einem Hochhausblock, habe aber insgesamt fünf Zimmer.
Ob es noch andere Menschen in seiner Familie gebe, mit denen er reden
könne, wollte meine Chefin wissen. Das Kind antwortete: In Hamburg wohnten nur die Großeltern mütterlicherseits. „Aber auf die bin ich sauer seit der Sache mit meinem Hamster.“ – Der Hamster sei gestorben und lag eines Morgens tot in seinem Käfig. Wer bitte stellt einen nachts
lärmenden Hamster in so ein kleines Kinderzimmer? Der arme Hamster. Nein, mal im Ernst: Das Kind hatte das Bedürfnis, das tote Tier zu beerdigen. In einer Hochhaussiedlung ist das eher schwierig, aber bei den Großeltern im Garten vor dem Haus sollte es sein. Also packte er zusammen mit seiner Mutter den toten Hamster in Watte und Stroh in eine alte Keksdose. Ein anderes Behältnis hatte man auf die Schnelle nicht gefunden.
Die Großeltern hätten dann gesagt, dass sie einen toten Hamster in einer Keksdose nicht in ihrem Garten vergraben. Erst auf Betteln des Kindes hätten sie schließlich eingelenkt. Der Opa hat versprochen, erst noch ein Holzkreuz für den Hamster zu machen und ihn am nächsten Morgen einzubuddeln. Jetzt werde es schon dunkel und am Sonntag könne man nicht
graben… Ein Holzkreuz hat es nie gegeben, es sei immer etwas dazwischen
gekommen. Dafür hat der Enkel bei der nächsten Familienfeier zufällig mitbekommen, wie sich der Opa über den Enkel amüsiert hat. Den Hamster habe er im Hausmüll entsorgt und die alte Keksdose verwende er jetzt für
seine unsortierten Briefmarken – bevor er sie in seine Alben einordne. Tatsächlich, so der Patient, stand im Regal eine solche Keksdose.
Und ich dachte immer, meine Familie ist einigermaßen grotesk. Was ich
überhaupt nicht begreife: Irgendwo muss der Kurze solche Dinge wie Trauer, Totenruhe, Beerdigung, Mitsprache, Liebe, Verlustangst, Verantwortung, Unrechtsbewusstsein … doch vermittelt bekommen haben. Wie
verkorkst geht es da bitte zu? Ich kann das noch immer nicht begreifen und bin, was die Auseinandersetzung mit diesem „Fall“ angeht, noch immer
absolut sprachlos.
Meine Chefin hat den Sozialen Dienst des Jugendamtes angerufen. Die haben eine Mitarbeiterin in die Praxis geschickt. Meine Chefin sagt: „Wenn ich ernsthaft Kenntnis darüber habe, dass dort geprügelt wird und die Eltern mit Messern aufeinander losgehen, habe ich gar keine andere Wahl. Im Rahmen einer ambulanten haus- oder kinderärztlichen Betreuung kann ich im Moment kaum mehr für ihn tun. Und es gibt noch ein jüngeres Geschwisterkind, um das sich auch jemand kümmern muss.“