Philipp

Jetzt habe ich tatsächlich meinem Tagebuch etwas verschwiegen. Das kommt nicht oft vor. Aber manchmal brauche selbst ich Geheimnisse. Unvorstellbar. Aber wahr. Philipp. Heißt er wirklich. Er sagte: „Ich habe nichts dagegen, dass du mich in deinem Blog erwähnst, aber tu mir bitte einen Gefallen und gib mir keinen neuen Namen.“ – Wird gemacht.

Er weiß inzwischen, dass ich auf dringender Suche bin und auch einen mehr als freundschaftlichen Kontakt mit einem Kumpel nicht ausgeschlossen habe. Mit Sebastian ist es aber zu nichts gekommen, denn letztlich kam es mir zwar nicht falsch vor – aber auch nicht richtig. Philipp trainiert Schwimmen in derselben Halle in Hamburg wie ich. Ich fand ihn schon immer toll, aber er war halt vergeben.

Zumindest wurde das behauptet und ich glaubte das. Und in eine bestehende Beziehung mische ich mich nicht ein. Auf den damit verbundenen Stress habe ich so gar keine Lust. Also habe ich nicht länger darüber nachgedacht, bewusst weggeguckt und höchstens mal nett gegrüßt. Bei meinem ersten Trainingsbesuch nach sehr langer Zeit sah ich
ihn wieder und sprach eine Kollegin an. „Den gibt es ja auch noch immer. Und seine Badehose sitzt knackiger denn je.“ – „Der ist übrigens gar nicht liiert“, meinte sie. Und fuhr fort: „Er will aber nichts von uns. Er meinte mal, dass er mit Leuten vom Job, beim Training oder aus dem Haus nichts anfangen würde. Das hätte er in der Schule und in der Uni schon so gehalten und damit sei er immer gut gefahren. Alles andere bringe nur Stress.“ – „Ich versuch das trotzdem“, antwortete ich. Spontan entschieden.

Man muss dazu wissen, dass ich ihn kaum kenne. Macht aber nichts, denn man kann sich ja kennenlernen. Auf jeden Fall sieht er gut aus. Um nicht zu sagen: Ich schmelze dahin. Durchtrainierter Schwimmer, 26 Jahre
alt, etwa 190 cm groß. Knackiger Po, schöne Hände, tolle Augen, schönes
Lächeln. Nein, ich würde mich mit niemandem einlassen, der komische Ansichten vertritt oder total bescheuert ist. Und nein, es muss nicht unbedingt der durchtrainierte Schwimmer sein. Aber diesen Typen würde keine Frau von der Bettkante stoßen und mit dem nötigen Abstand vom Training, den ich durch meine „Auslandssemester“ habe, konnte ich tatsächlich mal alles auf eine Karte setzen. Beste Voraussetzungen.

Ich dachte mir: Gehör schenkt er mir sowieso keins im Vorbeigehen. Anlächeln und zuzwinkern bringt uns nicht weiter. Ich brauche den direkten Kontakt. Normalerweise bin ich kein Fan von plumper Anmache – aber diskrete Versuche haben mich in den letzten 22 Jahren nicht wirklich zum Ziel gebracht.

Ich passte also das Ausschwimmen ab und tauchte unter den Trennleinen
hindurch in seine Nachbarbahn. Da in seiner Bahn sehr viel los war, fiel ich nicht auf. Ich wartete. Am Ende staute es sich, wie eigentlich immer: Für eine weitere Bahn oder das Verlassen des Beckens musste man sich anstellen. Das war meine Chance. Ich tauchte in die Lücke zwischen ihm und seinem Hintermann und schwamm in Rückenlage einfach immer weiter. „Jetzt bloß nicht verschlucken, unglücklich zusammenstoßen oder den falschen anrempeln“, dachte ich mir. Ich dachte mir aber auch: „Das neue Jahr könnte mir ruhig mal ein As in den nicht vorhandenen Ärmel zaubern.“

Klar war: Wenn ich ihn nur leicht anschwimmen würde, würde er sich vermutlich nicht mal umdrehen. Ich musste also eine kleine Show abziehen. Dass es eine Anmache ist, wird er schnell merken, denn ich habe in seiner Bahn ja eigentlich gar nichts zu suchen. Und während mein
Herzschlag bis in den Hals zu spüren war, stieß mein Kopf tatsächlich gegen irgendeinen Rücken. Mit ziemlichem Schwung. Der Rücken ging einen Schritt vor. Ich machte noch einen letzten Schwimmzug, stieß denjenigen noch einmal an. Hoffentlich war es der richtige. Ich stellte mich saudumm an, nahm das Kinn auf die Brust, rollte mich ein und ging mit dem Po voraus unter, ruderte ein wenig mit den Armen und … erreichte seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

Eine starke Männerhand packte mich nach ganz kurzer Zeit am linken Oberarm und zog mich nach oben. Es war der Richtige! Er war ein wenig erschrocken: „Hey! Was machst du?!“ – Halb am Arm hängend, auf den Füßen
nicht stehen könnend, antwortete ich: „Huch? Ich glaube, ich habe mich verirrt.“ – „Das glaube ich aber auch“, sagte er. Und fragte: „Wie bist du überhaupt hierher gekommen? Eure Bahn ist doch viel weiter vorne!“ – „Getaucht“, grinste ich. Er ließ mich los, guckte in die Runde. Natürlich mussten in meiner Bahn die anderen Leute glotzen und in diesem
Moment unauffällig weggucken. Philipp roch den Braten und fragte: „Ist das jetzt eine Mutprobe oder was? Sind wir hier beim Kinderschwimmen?“

Gewissermaßen hatte er das durchschaut. Sollte ich ihn jetzt auf einen Kaffee einladen? Nein. Die diskrete Art hat mir nichts genützt, die plumpe hat dazu geführt, dass er mit mir redet. Wenn auch ähnlich plump wie ich vorgelegt hatte. Also mache ich weiter auf plump. Ich sagte, während er langsam gehend in Richtung Beckenrand aufrückte und ich, gerade mit dem Kopf aus dem Wasser schauend, neben ihm paddelte: „Ja und nein. Es hat mich sehr viel Mut gekostet, aber eine originäre Mutprobe, nur der Mutprobe willen, ist es nicht.“ – „Sondern?“ – „Philipp, ich will was von dir.“ – „Du willst was von mir?“, wiederholte
er. Sein Vordermann drehte sich um und lachte. Ich antwortete: „Ja. Eigentlich schon seit Ewigkeiten, aber bisher hieß es immer, du wärest vergeben.“

Er guckte mich mit einem tiefen Blick an. Boa, der kam direkt im Bauch an. Es kribbelte. Gleich ist es vorbei mit klaren Gedanken. Jetzt bloß nichts verpatzen. Philipp machte auf äußerst selbstbewusst: „Da bist du nicht die Erste, wie du vielleicht weißt. Es gibt ein paar Leute, die für mich schwärmen.“ – „Ich schwärme nicht, ich will was von dir“, wiederholte ich nachdrücklich. Und in meinem Kopf fügte ich ein „am liebsten jetzt sofort“ an. Er fragte: „Wie heißt du überhaupt?“ – „Jule“, sagte ich, während wir am Beckenrand angekommen waren. Wenn er jetzt rausspringt und mich hier zurücklässt, …

Nicht darüber nachdenken. Er sprang nicht raus, sondern drehte nach links ab und tauchte bis zu den Schultern wieder ins Wasser, hielt sich hinter dem Rücken an der Trennleine fest. Er musterte mich erneut und fragte: „Du verarschst mich, oder? Ihr habt irgendwas gewettet oder du …“ – Ich unterbrach ihn: „Zwing mich nicht zu heulen. Ich meine es verdammt ernst.“ – „Aber wir kennen uns doch kaum. Woher willst du wissen, dass wir uns überhaupt verstehen? Vielleicht sehe ich gut aus, vielleicht sportlich, kann gut schwimmen, aber woher willst du wissen, ob wir überhaupt zueinander passen?“ – „Können wir das nicht ausprobieren? Ich würde dich so gerne kennenlernen.“

Er antwortete: „Ach, ich weiß nicht. Also irgendwie bist du schon eine heiße Schnecke, wenn ich das mal so sagen darf, aber so ein Gefühlswirrwarr kann ich im Moment überhaupt nicht gebrauchen. Ich kann mich nicht so einfach in jemanden verlieben. Und wenn das dann so ist und dann trennen sich unsere Wege wieder, weil das alles nur ein spontanes Strohfeuer war?“ – „Willst du aus Furcht vor einer späteren Trennung ewig Single bleiben?“ – „Nein, aber ich weiß nicht, ob ich dich
noch neutral kennenlernen kann, wenn du mich nur durch eine rosafarbene
Brille siehst.“ – „Vermutlich nicht. Aber willst du es nicht trotzdem darauf ankommen lassen und dabei genießen, dass ich dich durch die rosafarbene Brille sehe? Ich werde dich sicherlich nicht enttäuschen. Es
sei denn, du bist ein großes Arschloch.“

Jetzt bloß nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Er tauchte einmal mit dem Kopf unter Wasser, kam wieder hoch und guckte mich an. Dann sagte er: „Lass uns am Freitagabend um ein paar Häuser ziehen.“ – Yes. Strike.

Leider wurde nichts draus. Er sagte mir kurzfristig ab, weil es ein Problem mit seiner Mutter gab. Sie musste ins Krankenhaus, hatte sich bei einem Sturz das Sprunggelenk gebrochen. Ich war zuerst super enttäuscht und habe mir ausgemalt, dass das eine generelle Absage wäre. Aber einige Stunden später rief er mich an und fragte mich, ob wir stattdessen am nächsten Tag zusammen essen gehen würden.

Es war sehr gut. Die Location, das Essen, die Getränke. Und vor allem: Er. Wir haben uns bestimmt fünf oder sechs Stunden lang über alles unterhalten, worüber man irgendwie reden konnte. Sogar Glaube und Politik waren dabei. Es war, als würden wir uns schon Jahre kennen. Was ich kein einziges Mal gehört habe: „Das ist ja toll, dass man mit dem Rollstuhl hier reinkommt.“ Oder ähnliches. Ich habe ihm von meinem Unfall erzählt, von meinem Blog, von meinen Eltern, eigentlich von meinem ganzen Leben. Er hat auch von sich sehr viel erzählt, meinte aber
immer wieder, dass sein Leben gegen meins langweilig sei. Er sei im Schwimmen recht erfolgreich und trainiere nahezu täglich. Er hat zusammen mit zwei ehemaligen Schulfreunden eine eigene Firma gegründet, die eine Marktlücke im IT-Bereich gefunden hat. Das Ding laufe zwar recht gut, trotzdem hat er keine Rolex, fährt einen neun Jahre alten Golf und wohnt im ausgebauten Dachboden seines Elternhauses.

Ich will wirklich was von ihm. Ich bin mir erstmals seit Jahren richtig sicher. Ich bin in der letzten Woche zwei Mal abends beim Schwimmen gewesen, nur um ihn zu treffen. Er hat mit seiner Gruppe trainiert, ich alleine in einer Trimmbahn. Anschließend haben wir zusammen geduscht. Nackt! In der Behindi-Dusche. Haben uns Duschgel und Shampoo geteilt. Beziehungsweise ich roch anschließend sehr männlich. Nein, wir haben uns nicht angefasst. Es ist überhaupt nichts gelaufen. Außer das Wasser. Ich will nichts überstürzen, andererseits möchte ich natürlich auch nicht, dass wieder nur eine Freundschaft daraus wird. Ich
will eindeutig mehr. Sein Ding sieht gut aus. Ja, sorry, ich sehe schon
wieder den kritischen Kommentar: „Würde ein Mann das schreiben, wäre das Geschrei groß!“ – Sein Ding sieht trotzdem gut aus. Und ja, ich habe
genau hingeguckt, als ihm der Shampoo-Schaum über das Gesicht lief. Ein
wenig respekteinflößend, aber gut.

Ich hatte gehofft, dass wir uns an diesem Wochenende sehen würden. Leider wurde daraus nichts, weil es dieses Mal ihn erwischt hatte. Am Freitag abend schrieb er mir, dass er sich mit Halsweh ins Bett gepackt hatte. Ich hoffe, er wird schnell wieder gesund. Ins Kino wollen wir auf
jeden Fall auch demnächst. In welchen Film? Auf welchen Sitz? Das dürfte wohl klar sein.

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert