Psychobunker

Der erste Tag meiner Psycho-Famulatur ist rum. „Psycho“ deshalb, weil ich gelernt habe, dass die Patientinnen und Patienten ihre Klinik „Der Psychobunker“ nennen, in dem sie, behütet vor äußeren Einflüssen, selbständig an ihren Äußerlichkeiten experimentieren, und so mehr Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein gewinnen. „Ich habe mich entschieden, einmal bis zu 85% auszurasten, um dem Franz, dem Peter und dem Günther zu zeigen, dass auch in mir Gefühle sind. Die letzten 15% habe ich mir für die letzten drei Wochen meiner Reha aufgespart. Jede Woche fünf Prozent mehr. Es war ein gutes Gefühl, eine Ecke meines Panzers hat …“ – „Sich gelöst?“ – „Nein, Ute, ich bin noch nicht so weit
wie du. Mein Panzer bebt erst mal.“ – „Das ist doch völlig okay. Weine ruhig, Tränen sind wunderbar, sie können auch einen Panzer auflösen.“ – „Mein Panzer ist wasserfest!“ – „Nein, so etwas gibt es nicht. Selbst Blech kann rosten. Wasserfest ist nur die Farbe, mit der du angestrichen
wurdest. Du be-zett-weh dein Panzer.“ – „Danke für deine aufrichtigen Worte.“ – „Immer gerne, ich bin in Psychofragen schon eine kleine Expertin. Ich wollte selbst mal Psychotherapie studieren.“ – „Echt? Ich könnte das nicht. Ich habe schon mit mir genug zu tun.“ – „Was meinst du, warum ich es mir anders überlegt habe?“

Ja. Nein. Wahnsinn. Ich will das keineswegs ins Lächerliche ziehen. Sondern ich zitiere aus einem Dialog, den ich beim Warten auf dem Flur vor der Einführungsveranstaltung für neu hinzugekommene Rehabilitanden, an der ich auch teilnehmen sollte, um ein wenig mehr über das Haus zu erfahren, mitbekommen habe. Ich habe ihn etwas verdichtet, den Dialog, aber es sind exakt diese Worte, die mich für einen Moment lang nachdenken ließen. Darüber, dass es gut sein wird, seine Antennen in viele verschiedene Richtungen auszurichten, wenn man einen Menschen verstehen will. Und einen Menschen zu verstehen, auch wenn man ihn nicht
kennt und vielleicht nicht mal mag, ist wichtig, um auch zu verstehen, warum er sich krank fühlt.

Länger konnte ich nicht nachdenken, denn dann wurde ich angesprochen.
„Dein erster Tag hier?“, fragte mich eine junge Frau, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als ich. Bevor ich etwas erwidern konnte, gab sie mir ihre Hand: „Ich bin … und komme aus …, das ist ein kleines Kaff an der Nordsee, etwa sechzig Kilometer von … entfernt. Und du?“ – „Ich bin Jule und komme aus Hamburg, ich bin Famulantin und arbeite hier ab heute
für vier Wochen.“ – „Oh, sorry. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“
– „Alles ist gut. Wie lange sind Sie denn schon hier?“ – „Seit letzten Donnerstag.“ – „Und dann heute nochmal zur Einführung?“ – „Einführung ist nur einmal pro Woche und letzten Montag war ich ja noch nicht hier.“
– „Ich hoffe, das wird nicht allzu langweilig.“ – „Sie sind ja cool. Was für eine Therapeutin wollen Sie denn später mal werden?“ – „Ich … Ärztin möchte ich werden. Ich studiere Medizin.“ – „Echt? Nicht wirklich, oder? Ich bin mir im Moment gerade nicht sicher, ob ich veräppelt werde. Ich will ja niemandem zu nahe treten, aber bei mir drei
Zimmer weiter wohnt auch ein Typ, der auch gerne etwas hochstapelt. Der
studiert angeblich Jura und hat zuerst auch erzählt, er wäre hier im Rahmen eines juristischen Praktikums, inzwischen habe ich aber gesehen, dass er sich ritzt und in der Gruppe musste er zugeben, dass er nicht mal Abitur, dafür aber umso größere Minderwertigkeitskomplexe hat. Hat zumindest meine Tischnachbarin beim Essen erzählt.“ – „Krass“, sagte ich, denn soweit ich weiß, dürfen Interna aus diesen Gruppen eigentlich nicht herumposaunt werden. – „Bist du wirklich Famu-Dings?“ – Ich nickte. Sie guckte mich mit ernstem Blick an, musterte mich fast mit zusammengekniffenen Augen, sagte dann, ich sei ihr suspekt, und drehte sich um.

Zum Glück kam einen Moment später ein Mann, schloss die Tür auf und bat uns in einen Besprechungsraum, in dem ein paar Stühle im Kreis aufgestellt waren. Drei Frauen räumten plötzlich einen Stuhl zur Seite und sagten zu mir: „Stell dich doch hier hin.“ – Ich stellte mich einfach dazwischen. Dann kam als erstes eine Vorstellungsrunde. Zuerst stellte sich der Moderator als stellvertretender Klinikdirektor vor, dann sollte jeder seinen Namen sagen und auf welcher Station er sei. Wenn man wollte, auch das Alter. Aber mehr bitte nicht, sonst würde es zu lange dauern. Als ich dran kam, sagte ich: „Ich bin Jule und 22 Jahre
alt.“ – „Und welche Station?“ – „Ich bin Famulantin.“ – „Achja“, sagte der moderierende Co-Direktor, stand auf, kam auf mich zu und schüttelte mir die Hand. „Wir reden die nächsten Tage nochmal ausführlich. Sie sind
diese Woche bei Dr. … auf der Station?“ – Ich nickte, im gleichen Moment brach die junge Frau, die mich vor der Tür angesprochen hatte, in
Tränen aus, stand auf und verließ den Raum. Sollte ich da jetzt hinterher? Nein. Bloß nicht.

Vor der Tür, am Ende des Ganges, wartete sie nach der Veranstaltung. Heulend. Als ich vorbei rollte, guckte sie mich an. „Ich wollte mich bei
Ihnen entschuldigen. Ich war so ungerecht zu Ihnen.“ – „Das waren Sie nicht. Sie waren nur sehr direkt und ehrlich und hatten Zweifel. Die sind okay, man muss nicht immer alles sofort glauben. Man kann sich die Zeit nehmen, um sich erst ein gründlicheres Bild zu machen.“ – „Ich bin immer so unkontrolliert, aber das macht mir auch im Alltag ständig Probleme.“ – „Ich bin Ihnen nicht böse. Okay?“ – „Danke.“

Ich hatte inzwischen erfahren, dass ich mich lieber mit Nachnamen vorstellen sollte und alle Patientinnen und Patienten konsequent gesiezt
werden. Außerdem bräuchte ich ein Namensschild, das sei meine einzige Aufgabe, bevor ich etwas anderes mache. Dienstkleidung gäbe es für Famulanten nicht, aber ich dürfte mir ein Stethoskop um den Hals hängen,
wenn ich mich abgrenzen müsste… Und die Klinik sei eigenständig finanziert und nicht in Trägerschaft der Rentenversicherung, wie mir auch noch erklärt wurde. Deshalb sei hier vieles anders als ich es vielleicht von Kommilitonen erzählt bekommen hätte. Ich verkniff mir alle Kommentare und Antworten. „Aber anerkannt werden Ihre vier Wochen Famulatur trotzdem“, erfuhr ich. Zum Glück.

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