Mitten im Chaos

Ich bin mal wieder mittendrin. Nicht nur in der Woche, sondern auch
im Chaos. Meine Famulatur, also eine Art Praktikum im Rahmen des Studiums, läuft so gar nicht rund. Ich habe, ehrlich gesagt, ein wenig das Gefühl, dass ich hier gerade viel Zeit verschwendet habe. Am Dienstag sollte ich morgens an den Zimmertüren der Patienten klopfen und
die Leute einzeln zum Stationszimmer begleiten, damit ihnen dort der Blutdruck und das Körpergewicht gemessen werden können. Ich kam mir reichlich doof dabei vor, Menschen zu eskortieren, die den Weg auch alleine finden würden. Nur das war meine Aufgabe, Blutdruck oder Gewicht
messen durfte ich nicht.

Mittags sollte ich mir die Therapiemöglichkeiten der Klinik angucken.
Ich wurde einmal durch die Räume geführt, während die Patienten beim Essen waren. Anschließend hätte ich mir eine halbe Stunde eine Therapieeinheit im Bewegungsbad anschauen können, die fiel aber aus, weil irgendetwas mit der Lüftung nicht in Ordnung war. Der Patient bekam
stattdessen eine Massage. Ich durfte dabei zugucken.

Am Nachmittag sollte ich beim Autogenen Training in der Gruppe teilnehmen und anschließend an einer Beschäftigungsgruppe, in der Bingo gespielt wurde. Im Anschluss an die Bingo-Gruppe hatte ich eigentlich Feierabend, allerdings sprach mich ein junger Mann an, 21 Jahre alt und aus Schleswig-Holstein, ob ich ihm helfen könnte bei der Auswahl eines Hilfsmittels. Er habe eine Gehbehinderung und suche „für schlechte Tage“
einen Rollstuhl. Ich würde mich doch sicherlich auf dem Hilfsmittelmarkt sehr gut auskennen.

Normalerweise wäre ich eher sofort hilfsbereit und würde mir sogar nach Feierabend noch die Zeit nehmen, aber hier wollte ich erstmal für mich ordnen, wie ich auf diese ungewöhnliche Frage am besten reagieren würde. Ungewöhnlich deshalb, weil ich nicht erkennen konnte, dass der Patient tatsächlich einen Rollstuhl benötigen könnte. Ich weiß zwar, gerade vom Sport, dass es viele Menschen gibt, denen man eine Einschränkung nicht sofort ansieht, und dass es schubweise verlaufende Erkrankungen gibt. Aber dass ich heute so überhaupt keinen Anhalt für eine Gehbehinderung bei ihm sah und er demnächst nur im Rollstuhl noch vorwärts kommen würde, wollte ich nicht so ohne weitere Nachfragen annehmen. Und bevor ich mich nun in irgendein blödes Gespräch verstrickt
hätte, bat ich ihn, mich am nächsten Tag noch einmal anzusprechen.

Dazu kam es nicht. Ich bekam gestern morgen aus dem Stationszimmer die Order, sofort bei dem stellvertretenden Klinikleiter, den ich bereits in der Begrüßungsrunde kennengelernt hatte, aufzuschlagen. Ich dachte zunächst, er wollte nun endlich mal zehn Minuten mit mir reden und vereinbaren, was genau ich tun und lernen könnte. Stattdessen bekam ich einen Einlauf, der sich gewaschen hatte. Es begann damit, dass ihm zu Ohren gekommen sei, ich würde unabgestimmt in die Therapie der Patienten eingreifen. Nach einigem Hin und Her stellte sich heraus, dass
besagter 21jähriger Mann seinem Stationsarzt erzählt hatte, dass wir [!] ineinander verliebt [!] seien und ich ihm Rollstuhlfahren beibringen
wollte. Es sei ein absoluter Hammer, schließlich hätte ich mich erstmal
vergewissern müssen, welche Krankheit der Mann hätte, denn einen Rollstuhl bräuchte der Mann nicht. Angesichts meiner Beziehung zu einem Patienten fühle er sich von meiner „an Unprofessionalität kaum noch zu überbietenden Arbeitsweise derart molestiert“, dass er mir im Laufe des Tages meine Papiere auszuhändigen und ein paar Telefonate führen würde, um mich anderswo unterzubringen.

Ich fühlte mich, als wenn mir jemand den Boden unter den Rädern wegzog. Okay, es ist nur ein Praktikum, aber wieso werde ich nicht gefragt, bevor man urteilt und Entscheidungen fällt? Ich nahm ob des dominanten Auftretens meines Gegenübers allen Mut zusammen und sagte: „Mit Verlaub, ich hätte mir gewünscht, Sie hätten sich beide Seiten angehört, bevor Sie mich hier rausschmeißen. Ich habe keine Beziehung mit dem Patienten. Nur weil ein Patient irgendeinen Unsinn in die Welt setzt, werde ich hier diszipliniert? Das ist nicht fair.“

Er guckte mich an und antwortete: „Gehört das auch zu Ihrer Unprofessionalität oder sind Sie einfach nur naiv? Sie werden nicht diszipliniert, ich besorge Ihnen eine gerade andere Stelle. Es ist gleichgültig, ob Sie mit dem Patienten was haben oder nicht. Er hat was mit Ihnen. Er hat ein warmes Lächeln Ihrerseits falsch gedeutet und malt
sich aus, dass Sie ihn lieben. Ob das stimmt oder nicht, spielt gar keine Rolle mehr. Ich kann seine Maßnahme deshalb nicht abbrechen, das würde kein Kostenträger zulassen. Und bevor ich mir hier vier Wochen lang einen Krisenherd ins Haus hole, besorge ich Ihnen eine andere Klinik, in der Sie Ihre Famulatur ab morgen weitermachen. Es sei denn, Sie wollen das nicht, dann sagen Sie das bitte gleich.“

Ich überlegte einen Moment. Darüber, was mein Gegenüber am Telefon seinem Kollegen erzählen würde. Wollte ich mich in einer Klinik vorstellen wollen, in der mir irgendein falscher Ruf vorauseilt? Würde ich, wenn ich mich einverstanden erkläre, gleichzeitig auch zugeben, dass da doch was läuft? Würde ich, wenn ich mich hingegen nicht einverstanden erkläre, ihm die Chance geben, später zu behaupten, er habe in fürsorglicher Absicht eine andere Stelle für mich suchen wollen,
die ich aber zickigerweise nicht haben wollte? Würde das überhaupt noch
jemanden interessieren? Selbst wenn ich mich beschweren würde … es hatte alles keinen Sinn. Entweder sind hier einige Leute beknackt oder sie wollen mich aus irgendeinem Grund loswerden. Egal, wie ich handeln würde, ich kann nicht gewinnen. Also guckte ich ihm in die Augen und sagte nur: „Sie sollten sich schämen.“

Er erwiderte nichts. Ich rollte auf dem direkten Weg nach draußen, setzte mich ins Auto und überlegte einen Moment. So aufgewühlt wollte ich jetzt nicht fahren. Ich war total zittrig. Ich hatte keine Lust, jetzt noch einen Unfall zu bauen, weil ich in dieser emotionalen Anspannung am Straßenverkehr teilnehme. Ich rief einen Freund an, der sich eine gute Stunde Zeit für mich nahm und mich einigermaßen runterfahren konnte. Anschließend fuhr ich zu Maries Mutter in die Praxis. Als ich meinen Rollstuhl aus dem Auto lud, fing ich wieder zu weinen an. Ich weiß nicht, warum mich das so aus der Bahn warf, aber ich
fühlte mich so erniedrigt. Klar, dass ich das wegen meiner persönlichen
Betroffenheit alles sehr emotional sehe. Aber dazu stehe ich auch. Ich hatte mich sehr auf diesen Monat gefreut und …

Maries Mutter saß hinter dem Anmeldetresen und klimperte wild auf dem
Computer herum, als ich reinkam. Eine Patientin stand dort, bekam etwas
ausgedruckt und verschwand, zwei ältere Menschen warteten schon in ihrem Sprechzimmer als nächste Patienten bei offener Tür. Einen Moment später nahm sie mich wahr, stand auf und bat mich ins Labor, schloss die
Tür hinter sich. „Was ist passiert?“, fragte sie mich. Ich antwortete: „Ich bin fristlos gefeuert worden.“ – „Ach du Kacke. Und warum?“ – „Weil
sich ein Patient in mich verliebt hat.“ – „Und dann?“ – „Nichts und dann. Der Typ hat erzählt, wir hätten was miteinander, der Chef findet das unprofessionell, und da er den Zirkus nicht haben möchte, hat er mich einfach rausgeschmissen.“ – „Wir reden gleich weiter, okay? Ich kümmere mich nur noch eben um die letzten Patienten.“

Als die letzten Patienten und die letzte Mitarbeiterin draußen waren,
fragte mich Maries Mutter, ob ich schon was gegessen hätte. Ich guckte sie fragend an. „Du weißt schon. Nahrung.“ – Ich schüttelte den Kopf. „Ich mach dir einen Pfannkuchen, okay? Und dann erzählst du mir erstmal,
was da los war. Lass dich mal drücken. Was ich nicht verstehe, hattest du denn was mit dem Patienten?“ – „Nein, das ist es ja! Er hat mich gestern gefragt, ob ich ihm eine Hilfsmittelberatung geben kann, er bräuchte auch einen Rollstuhl. Und ich habe ihn gebeten, mich heute nochmal anzusprechen, weil ich das nicht einordnen konnte, was er wollte, der sitzt nämlich eigentlich gar nicht im Rollstuhl. Zumindest nicht auf den ersten Blick.“ – „Na super. Und was sagt er heute dazu?“ –
„Ich habe ihn heute nicht gesehen, ich sollte direkt zum Chef, und der meinte dann, der Typ habe erzählt, wir hätten eine Beziehung, entweder sei das hochgradig unprofessionell von mir oder die Situation sei der Beginn eines vierwöchigen Krisenherdes, auf den er keinen Bock hätte. Also hat er den Weg des geringsten Widerstandes gewählt und mich gefeuert. Er fühlt sich von mir molestiert.“ – „Molestiert?“ – „Ja, keine Ahnung, was das bedeutet, aber ich vermute sowas wie ‚belästigt‘.“
– „Das ist Schnöselsprache und bedeutet ‚belästigen‘, ‚bedrängen‘, ‚auf
den Wecker gehen‘. Ich hätte große Lust auf eine offizielle Beschwerde bei der Kammer. Aber vermutlich wird er sich rauswinden und du stehst am
Ende schlechter dar als wenn du ihm einfach in Gedanken den Stinkefinger zeigst.“

Vermutlich hat sie, wie so oft, recht. Auch wenn das einen faden Geschmack hinterlässt. Abends bekam ich dann noch eine Nachricht des Freundes, der mich mittags schon eine Stunde getröstet hatte. Er schickte mir ein Bild, das er beim Einkaufen an einer Hauswand gesehen hat. Er sagte, er habe spontan nochmal an mich denken müssen. Guckst du:

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