Begegnungen

Ich fahre heute auf dem Gehweg neben einer viel befahrenen Straße. Rechts neben mir ist der Radweg, ich fahre sozusagen links, gegen die Fahrtrichtung. Während das für Fahrradfahrer auf Radwegen ja nur erlaubt
ist, wenn ein entsprechendes Verkehrsschild das gestattet, ist es für zu Fuß Gehende und im Rollstuhl Fahrende ja schnierzpupsegal, auf welcher Straßenseite sie gehen oder rollen.

Ich muss eine kreuzende Fahrbahn überqueren. Der Gehweg ist an dieser
Straßenecke nicht abgesenkt, wohl aber der Radweg neben mir. Von vorne kommt kein Radfahrer, ich drehe mich um, und schaue, ob von hinten einer
gegen die Fahrtrichtung kommt. Ebenfalls Fehlanzeige. Bevor ich nun die
hohen Bordsteine hinab und vor allem wieder hinauf fahre, was ich könnte, was aber nicht sein muss (mit dem Fahrrad fährt man ja auch nicht freiwillig den Bordstein hoch, wenn direkt daneben irgendwas abgesenkt ist), mache ich einen Schlenker über den Radweg und rolle dort
hinab und nach dem Überqueren der Straße auf der anderen Seite wieder hinauf.

Im Haus direkt neben der Kreuzung, es ist hellblau angestrichen, steht im Erdgeschoss ein Fenster offen. Ein Mann, geschätzt Mitte 60, lehnt im Feinripp-Unterhemd mit seinem Kugelbauch auf der Fensterbank und pafft eine Zigarette. Neben seiner anderen Hand steht eine braune Bierflasche jener Marke, die am dollsten knallen soll. Er starrt ins Leere. Ich nehme ihn nur unterbewusst wahr, konzentriere mich darauf, mit meinen Vorderrädern nicht in der holperigen Pflasterung des Weges hängen zu bleiben. „Hallo Fo**e!“, begrüßt er mich plötzlich. – „Hallo Wi**ser!“, rutscht es mir heraus. Ohne groß nachzudenken und ohne ihn dabei anzugucken. Im gleichen Moment hoffe ich, dass er seine Waffe so deponiert hat, dass ich mich, während er sie holt, zumindest noch so weit entfernen kann, dass entweder die geringe Geschossenergie die Kugel
auf dem Weg zu mir verhungern lässt, oder der hohe Promillewert für eine so große Streuung sorgt, dass ein Treffer absoluter Zufall wäre.

Ich gucke ihn nach wie vor nicht an. Im Augenwinkel sehe ich aber das
empörte und zugleich verdatterte Gesicht eines Rentners, der offenbar den lieben langen Tag zwecks Suchtmittelkonsums im offenen Fenster lehnt, und dessen Höhepunkte das wahllose Beleidigen vorbei kommender Frauen sind. Herzlichen Glückwunsch. Mit einer spontanen Antwort hat er wohl nicht gerechnet. „Dumme Fo**e“, wiederholt er. Eine Vertiefung des
Dialogs erscheint mir ob des zumindest aktuell begrenzten Vokabulars meines Gegenübers aussichtslos. Offenbar davon provoziert, pöbelt er mir
das ungezogene Wort noch drei Mal hinterher, bevor die Flasche mit dem Rest Gerstensaft fliegt. Die Flasche zerschellt auf dem Gehweg. Ich drehe mich bewusst nicht um, kann aber anhand des Geräusches ausmachen, dass es mehrere Meter hinter mir ist.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite öffnet sich die Tür eines Friseurgeschäfts. Es beginnt eine Frau, geschätzt Mitte 50, zu keifen. „Geht das schon wieder los? Mensch, reiß dich doch mal zusammen!“ – Während hinter mir ein Wort das andere ergibt, mache ich mich aus dem Staub.

Keinen Kilometer weiter komme ich in den Bereich einer Fußgängerzone.
Kurz bevor sie beginnt, stehen um 1970 gebaute Wohnhäuser so nah am Straßenrand, dass Geh- und Radweg auf Minimalbreite verengt sind und man
bei Regen aufpassen muss, von vorbeifahrenden Autos nicht mit Pfützenwasser bespritzt zu werden. Über den Radweg kommt mir ein Radfahrer entgegen, auf dem engen Gehweg daneben gehen zwei ältere Menschen, eine Frau mit Hackenporsche, ein Mann mit Gehwagen. Beide sehen weder den Radfahrer hinter ihnen, noch den Mann, der, ebenfalls hinter ihnen, in einiger Entfernung mit schnellerer Geschwindigkeit heran kommt.

Ich kann auf den Radweg nicht ausweichen. Also müssen die beiden älteren Leute wohl mal kurz hintereinander gehen. Was sich aber ob des Dickkopfes etwas schwieriger gestaltet. Ich bleibe letztlich am rechten Rand des Gehwegs, direkt am Radweg, stehen und lasse die Leute um mich herumstiefeln. Was nach einigen Abstimmungsproblemen auch funktioniert. Nur leider kommt der Mann, der dahinter schnelleren Schrittes läuft und gerne überholen möchte, nun für sein Empfinden nicht schnell genug voran. Er versucht erst links, dann rechts an den beiden Senioren vorbei
zu kommen, sieht in letzter Sekunde den klingelnden Radfahrer. Und pöbelt natürlich wen an? Mich. „Musst du hier so dumm im Weg rumstehen?“

Mein Idiotenmagnet ist mal wieder perfekt kalibriert. Ich verkneife mir jeden Kommentar („Dein Bruder wirft übrigens gerade schon mit Bierflaschen“) und lächle. Und muss aufpassen, dass mich nicht noch jemand zur Seite schiebt. Zwei Mal setzt der Mann doch tatsächlich dazu an, mich an der Schulter zu berühren, traut sich dann aber doch nicht. Vielleicht denkt er, meine Querschnittlähmung könnte ansteckend sein. Manchmal sind Berührungsängste auch toll. Irgendwie.

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