Sina

Sina fiel beim Fensterputzen aus dem zweiten Stock und ist seitdem querschnittgelähmt. Ich hatte seit ihrem Unfall vor zwei Jahren mehrmals Kontakt zu ihr. Immer mal wieder für ein paar Stunden. Kennengelernt habe ich sie beim Warten auf eine Kontrolluntersuchung. Wir saßen zusammen im Wartezimmer, kamen ins Gespräch, tauschten Nummern aus, trafen uns zum Quatschen. Immer für ein bis zwei Stunden, mehr nicht. In
den letzten neun Monaten vielleicht insgesamt drei Mal.

Gestern abend klingelte gegen halb neun mein Handy. Ich guckte drauf und sah ihre Nummer. Eigentlich hatte ich nach mehreren Kilometern Schwimmtraining gar keinen Bock mehr, jetzt noch lange zu telefonieren, aber wir könnten uns ja kurz für einen anderen Tag verabreden. Als ich mich meldete, war auf der anderen Seite eine eher emotionslos wirkende Stimme, die mir ohne lange Umschweife erzählte, dass ich in ihrer Liste von Leuten stehe, die sie im Notfall anrufen könnte.

Ich fragte direkt zurück: „Bist du in Not?“ – „Ja“, antwortete eine verschnupft, vermutlich verheult klingende Stimme seufzend. – Ich fragte: „Kannst du frei sprechen?“ – „Jaja, ich bin alleine zu Hause. Mir geht es nicht gut. Ich überlege schon wieder, ob ich mich umbringen soll. Ich werde es nicht tun, weil ich leben möchte, aber ich denke schon wieder darüber nach, wie es sein würde, wenn alles vorbei ist. Das ist für mich ein Zeichen, dass ich dringend Hilfe brauche, bevor diese Gedanken in den nächsten Tagen siegen. Ich werde am Montag in die Klinik
gehen und mich aufnehmen lassen. Ich weiß, wir kennen uns eigentlich kaum, aber wir hatten immer so schöne Gespräche miteinander. Ich will nicht lange um den heißen Brei reden: Meinst du, du könntest heute nacht
zu mir kommen und bei mir schlafen? Das würde mir sehr helfen.“

Uff. Nee. Ja. Ach du Scheiße. Das klang wie abgelesen. Ich antwortete: „Ich brauche eine Stunde, bis ich bei dir bin.“ – „Ich kann warten, wenn ich weiß, dass du kommst.“ – „Ich komme. Aber nur bis morgen früh, danach muss ich wieder weg.“ – „Das hilft mir schon. Für die nächste Nacht finde ich auch noch jemanden. Ich sollte nicht alleine
sein, die Nächte sind am schlimmsten.“

Kurz vor zwölf stand ich vor einem heruntergekommenen Mietshaus. Sie bewohnt eine Einzimmerwohnung im Erdgeschoss. Es gibt ein vielleicht zwölf Quadratmeter großes Zimmer mit Kochniesche, dazu ein Bad – und ein
etwa ein Meter breites und fünfzig Zentimeter hohes Fenster direkt unter der Decke. Vor dem Fenster stand ein Baum und eine Straßenlaterne.
Hier würde ich auch depressiv werden. Ich wage sogar zu bezweifeln, dass dieses Loch (ohne vernünftiges Fenster) überhaupt zum Wohnen zugelassen ist. Beklemmend fand ich es. Und kalt.

Wir standen für zwei Stunden im Raum, guckten uns an, sie schüttete mir ihr Herz aus. Ihr langjähriger Freund hatte anlässlich ihres Unfalls mit ihr Schluss gemacht, jetzt hatte sie eine Beziehung, in der er vögeln und sie umarmt werden wollte. Sie hat sich das Vögeln gefallen lassen, weil es mit Umarmung und körperlicher Nähe zu tun hat. Sie sei ihren Freundinnen zu traurig, es würden sich nur oberflächliche Gespräche ergeben, ihr Rollstuhl sei kaputt und werde seit Monaten nicht repariert, sie käme nicht alleine aus dem Haus, der Pflegedienst zocke sie ab, bei ihrem Studium fühle sie sich ausgebrannt.

Heute morgen meinte sie zu mir, sie hätte die erste Nacht seit Wochen mal wieder mehr als zwei Stunden am Stück geschlafen. Und ich habe sie davon überzeugen können, mitzukommen. Zu mir und Marie für eine weitere Nacht. Ich habe meine Verabredung dann doch noch kurzfristig abgesagt. Morgen früh holt sich Sina von Maries Mutter eine Einweisung, falls es bis dahin keine bessere Idee gibt. Dann hat sie zumindest eins: Eine vernünftige Hausärztin, die ihr helfen kann, wieder auf einen guten Weg zu kommen. Ich glaube, Sina ist einfach nur überfordert und alleine. Und sie käme zurecht, wenn sie jemanden hätte, der ihr hin und wieder mal die Hand reicht. Und mit dem sie reden könnte. Im Moment schnibbelt sie mit Marie ein Mittagessen für uns zusammen. Ich drücke ihr die Daumen, dass sie aus ihrem Loch schnell wieder rauskommt. Sowohl aus dem seelischen als auch aus der komischen Wohnung.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert