Blutende Glatzen, kotzende Segler

Wie ich sehe, kommen die Anekdoten sehr gut an. Ich habe noch ein paar frische aus der chirurgischen Notaufnahme, in der ich derzeit mein zweites Drittel meines Praktischen Jahrs verrichte. Ich bin im Moment gefühlt für alles zuständig, was nicht lebensbedrohlich ist. Nicht als einzige, aber inzwischen wohl erstmal alleine. Vor jeder Diagnose, Therapie und Entlassung muss ich zumindest mit der Akte einmal zu einer approbierten Kollegin oder einem approbierten Kollegen und mir ein Okay holen – sofern ich nicht sowieso Fragen habe oder mir unsicher bin.

Übung macht die Meisterin. Hat mal jemand gesagt. Ich lerne also sehr viel. In erster Linie, dass Notaufnahmen (dieses ist eine rein chirurgische, also überwiegend Unfälle und Verletzungen) ein Sammelbecken für gesellschaftliche Randfiguren sind. Somit passt die behinderte Stinkesocke auch bestens rein!

Das fand auch ein Mensch ohne Kopfhaar, dafür mit Springerstiefeln, der aktuell seine Bomberjacke ausgezogen hatte, damit sie ihm nicht vollblutet. Der Nazi im blutgetränkten Feinripphemd hatte eine vier Zentimeter lange Schnittwunde in der linken Wangen-Gegend und jeweils einen weiteren blutenden Schnitt an der Stirn und am Rücken, war leicht alkoholisiert und nur latent aggressiv. „Ich möchte nicht von einer Behinderten angetatscht werden“, posaunte er hinaus. Da nur er und ich im Raum waren und er vermutlich keine Selbstgespräche führte, war wohl ich gemeint. „Ich kann mich gerade noch beherrschen“, konnte ich mir nicht verkneifen. Professionalität ging eindeutig anders, würde aber hier auch eindeutig nichts nützen.

Ein Pfleger kam dazu, ausgerechnet jemand, der aufgrund seines osteuropäischen Aussehens vermutlich der nächste sein würde, der in diesem Raum mit rechtem Geschwafel dichtgelabert wird. Ich bat ihn, als erste Amtshandlung gleich noch unseren Türsteher dazuzuholen. Falls mein Patient mit jemandem ringen möchte, ist es immer von Vorteil, wenn jemand da ist, der davon auch Ahnung hat. Als ich anfangen wollte, mich um seine Wunden zu kümmern, wiederholte er: „Ich will nicht, dass die Behinderte mich anfasst. Wer weiß, wo die überall ihre Finger hatte.“ – Der Pfleger antwortete: „Sind Sie nicht ganz dicht?“

Ein „siehst du doch“ konnte ich mir gerade noch verkneifen, wobei sein Hirn vermutlich schon früher rausgelaufen war und nicht erst durch die frische Undichtigkeit an der Stirn. Er pöbelte weiter: „Nee, Mann, im Ernst. Weiß ich, ob die sich nicht vorhin gerade frisch ihre verkrustete Möse gekratzt hat?“ – Der Pfleger wollte mir erneut beistehen, ich winkte aber ab: „Lass gut sein, der lebt in seiner eigenen Welt, zu der wir sowieso und auch glücklicherweise gar keinen Zugang haben.“ – Der widerliche Mensch holte Luft, wollte irgendwas sagen, ich fuhr ihm über den Mund: „Du setzt dich jetzt da hin und hältst dein Maul. Sonst ist dort die Tür – und dann ist mir scheißegal, ob du auf halbem Weg nach Hause verreckst.“ – Der Mensch vom Sicherheitsdienst zog sich bereits seine Lederhandschuhe über. Unter der schweißbedeckten Glatze wurde es mit zunehmendem Schwindel auch automatisch ruhiger. „Ich glaub, ich muss kotzen.“ – Hatte ich nicht anders erwartet.

Ich bin ja lieb, somit wird nicht mal eine Bikininaht bleiben.

Viel lustiger waren die beiden geistig behinderten Menschen, vermutlich ein Paar. Beide Mitte 40. „Ich hatte einen Bruch“, sagte er. Sie streichelte ihm beruhigend über die Schulter und nahm ihn in den Arm. Er heulte fast. Ich dachte erstmal, er meint eine Hernie, also einen Leistenbruch oder sowas. „Wo ist denn der Bruch?“ – „Im Klo.“ – „Im Klo?“ – „Siehste, Schatz, ich hab dir doch gleich gesagt, bewahr das auf.“ – „Ja, nun ist zu spät.“ – „Ja, aber vielleicht kann ich ja nochmal brechen, wenn das so wichtig ist.“

Apropos übergeben: Ein 14jähriges Mädel, ebenfalls mit einer leichten geistigen Behinderung, wartete zusammen mit ihrer Mama. Das Mädel hatte einen langen geflochtenen Zopf. Trug blaue Jeans und ein hübsches Top. Sie habe beim Segeln einen schwingenden Mast vor das Knie gekommen, das daraufhin blau geworden ist. Weil ich offenbar die Schiebetür zum Gang nicht komplett geschlossen hatte, sondern sie etwa 10 Zentimeter offen stand, stand das Mädchen auf und ging zur Tür, schloss sie. Ordnung muss sein. Sie humpelte nicht mal. Auf dem Weg zurück zur Untersuchungsbank erbrach sie plötzlich. Im Schwall, während sie ging. Eine minimale Menge, direkt auf den Fußboden. Sie guckte mich an, als wollte sie fragen: „Wer war das?“ – Sie schien das überhaupt nicht zu verarbeiten. Und spuckte gleich noch einmal. Noch einmal eine minimale Menge, vielleicht 50 Milliliter. Sah nach Früchtetee aus. „Sie hat gestern abend auch schon gespuckt. Kann das von dem Unfall mit dem Mast kommen?“
– „Der war doch erst heute, oder?“ – „Ach ja, stimmt. Zeig bitte der Ärztin mal dein Knie“, forderte die Mutter sie auf, während sie aus dem Spender Einmalhandtücher nehmen und die Flüssigkeit auf dem Boden aufwischen wollte. „Lassen Sie mal, das wird gleich steril gereinigt“, sagte ich ihr. Das Mädchen zog sich untenrum aus, und zwar komplett.

Ich sagte ihr: „Die Unterhose kannst du anlassen.“ – Nun war sie aber schon ausgezogen. Das Mädchen presste beide Hände zwischen die Beine. „Musst du auf die Toilette?“, fragte sie die Mutter. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Ich bat sie, sich auf die Untersuchungsbank zu setzen. Sie fing an zu hibbeln, presste sich abwechselnd die Hände zwischen die Beine. „Wir gehen lieber mal auf die Toilette“, sagte die Mutter, wollte das Kind so an die Hand nehmen und mit ihr über den Flur.
„Aber nicht nackt“, sagte ich. Bevor ich noch was sagen konnte, flitzte die Mutter mit ihr los. Halbnackt. Zum Glück war das Behinderten-WC für Patienten direkt gegenüber. Kaum waren die beiden draußen, kam die Chefärztin rein: „Was ist denn hier los?“ – „Geistige Behinderung, muss dringend pinkeln.“ – „Die soll hier nicht nackt über den Flur laufen.“ – „Hab ich auch gesagt.“ – „Dann bringen Sie ihr wenigstens den Schlüpfer hinterher. Und was ist das hier für eine Sauerei auf dem Boden?“ – „Kotze.“ – „Dann machen Sie mit der Kleinen in der Acht weiter und hier wird erstmal gereinigt. Was hat sie? Schädel-Hirn-Trauma?“ – „Sie hat schon gestern abend gespuckt. Der Mast hat angeblich nur ihr Knie getroffen.“ – „Dann arbeiten Sie das jetzt mal alleine ab. Ich guck zu. Und auf die Uhr. 10 Minuten. Zackizacki.“ – „Jawohl.“

Endlich kommt mal Schwung in die Sache.


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