Roter Teppich

Es ist 22.00 Uhr, endlich Feierabend. Ich will nur noch nach Hause.
Ich muss ein Stück mit dem Bus, dann mit der S-Bahn, dann wieder mit dem Bus fahren. Wenn alles klappt, bin ich in 40 Minuten zu Hause. Ich mag nach einem anstrengenden Dienst nicht mehr mit dem Auto fahren. Aus Angst, während der Fahrt einzupennen. Das wäre im Bus oder in der S-Bahn nicht so schlimm.

Vor der Fahrt nochmal zum Klo, dann müsste meine neurogene Blase eigentlich die 40 Minuten locker überstehen. Auch zwei Stunden sollte sie eigentlich schaffen. Mein Problem: Wenn es dann doch mal dringend werden sollte, gibt es nur ein ekliges Bahnhofsklo, das ich auch unter Einsatz meiner stets im Rucksack mitgeführten Hygienetücher und Einmalhandschuhe nicht immer anfassen möchte. Und ohne anfassen geht halt nicht, wenn man nicht stehen kann. Es ist immer so eine Gratwanderung. Meistens bin ich vorsichtig und präpariere mich dennoch mit einer Einmalpampers. Um zu einhundert Prozent auf der sicheren Seite zu sein.

Der erste Bus fährt mir direkt vor der Nase weg. Bis zur S-Bahn sind es rollend etwa 20 Minuten, der nächste Bus kommt in einer halben Stunde – also rollen. Es ist kalt. Zum Glück regnet es nicht mehr. Auf die letzte Minute erreiche ich die S-Bahn. Mit mir im Waggon ist eine Partygruppe, jeder einzelne ist völlig besoffen. Man hat eine Bluetooth-XXL-Bassbox dabei und hört Dubstep in voller Laustärke. Da es in der S-Bahn nur an bestimmten Stellen Rollstuhlstellplätze gibt, kann ich nicht weg. Wüsste man nicht, dass es Musik sein soll, könnte man denken, irgendwo stünde jemand in der Ecke und testet Baumaschinen auf Herz und Nieren.

Zum Glück steigt der Haufen nicht mit mir aus. Ich muss mit dem Aufzug nach oben, dann über eine Brücke, und drüben mit dem Aufzug wieder nach unten. Beide Aufzüge funktionieren, allerdings hat es eine Gruppe Fahrradfahrer so eilig, dass ich fünf Mal warten muss. Dann drängelt sich noch grinsend eine Frau vor, die ich frage, ob sie sich hinten anstellen kann, die aber nix verstehen. Nochmal warten. Als ich endlich an der Bushaltestelle ankomme, regnet es. Der Bus fährt mir vor direkt vor der Nase weg.

Der nächste Bus kommt in 30 Minuten. Fünf Kilometer rolle ich nicht über Stock, Stein, bergauf, bergab, durch Straßen, die teilweise keinen Gehweg haben. Bei Regen im Dunkeln. Also warten. Der zweite Bus, es ist inzwischen 23.15 Uhr, hält so weit weg vom Gehweg, dass ich nicht hinein komme, ohne dass jemand die Rampe ausklappt. Dafür kommen aber vier Frauen mit ihren Kinderwagen hinein. Alle vier sind nach mir mit der S-Bahn angekommen. Ich rolle nach vorne zum Fahrer. „Nein, ich kann Sie nicht mitnehmen, da stehen bereits vier Kinderwagen. Das sehen Sie aber auch selbst.“ – Bevor ich was erwidern kann, ist die Tür zu und der Bus fährt los.

Wieso sind die Kinder um diese Zeit noch nicht im Bett? Ich bin genervt. Es regnet, es ist windig. Ich bin müde, muss aufs Klo, friere. Der nächste Bus kommt. Ein Elektrorollstuhl mit einer jüngeren Dame steht drin. Platz genug für einen zweiten Rollstuhl wäre vorhanden. Aber die Tür hinten geht nicht auf. Ich rolle nach vorne. „Tut mir leid, aber ich kann nur einen Rollstuhl mitnehmen. Der Platz ist schon belegt.“ – Ich will Luft holen, aber der Fahrer drückt bereits auf den Knopf – zack, Türen zu.

Okay. Der letzte Bus käme in 42 Minuten. Nehme ich mir ein Taxi? Ja. Ich habe die Faxen dicke. Ich fahre zum Taxistand. Kein Taxi vor Ort. Ich rufe die Hotline an und bitte um einen Kombi. Was kommt? Eine E-Klasse-Limousine. Keine Ahnung, warum er den Auftrag annimmt, wenn er kein Kombi ist. Aber er erklärt es mir: „Von einem Kombi wurde nichts gesagt über Funk. Ich kann Sie nicht mitnehmen, Ihr Rollstuhl passt nicht in meinen Kofferraum. Rufen Sie noch einmal die Zentrale an und verlangen Sie nach einem Behindertentransport. Ich weiß aber nicht mehr, ob die jetzt noch fahren. Ich würde Ihnen jetzt einmal die Anfahrt berechnen.“

„Ich habe Sie nicht bestellt. Ich habe ausdrücklich nach einem Kombi verlangt. Klären Sie das mit Ihrer Zentrale.“ – „Ich rufe die Polizei.“ – Meint er, dass die mit einem Kombi kommt? „Machen Sie das. Schönen Abend noch.“

Ich rolle in eine noch geöffnete Systemgastronomiefiliale und bestelle mir einen heißen Kakao. Die einzige Chance weit und breit, noch irgendein warmes Getränk zu bekommen. Das am Ende nur lauwarm ist und nur nach Spülwasser schmeckt. Vermutlich kann man mir heute abend nichts mehr recht machen. Kaum habe ich drei Milliliter in mich hinein gekippt, spüre ich meine Blase. Gebe ich dem Klo am Busbahnhof eine Chance? Ja. Ich habe ja noch ein wenig Zeit. Ein Blick um die Ecke reicht mir: Irgendjemand hat halb ins, halb neben das Waschbecken gekotzt, das reicht mir. Zurück zum Bus, der soll in etwas über 10 Minuten kommen. Es ist gleich halb eins in der Nacht.

Vor dem Bus steht eine junge Frau im kurzen Minirock. Aber mit Mütze auf. Unten Gummistiefel. Und behaarte Beine. Ganz helle Haare. Aber ziemlich lang. Dazu lilafarbene Gummistiefel, die aussehen, als wäre sie
damit im Schlamm gewesen. Sie trägt eine DIN-A2-Mappe bei sich. Ich kenne sie nicht, trotzdem grüßt sie mich: „Na?!“ – Ich lächel sie an. Ich spüre, wie sich gerade meine Blase entleert. Jetzt weiß ich, warum ich mir zur Vorsicht doch noch eine Pampers angezogen hatte. Die Frau will unbedingt reden. Ich spüre auch das. Sie sagt: „Ich bin so glücklich. Ich habe ein halbes Jahr darauf hingearbeitet und heute habe ich die Auswahl gewonnen. Ich könnte die ganze Welt umarmen.“

Ich gratulierte ihr. Sie erzählt mir von irgendeinem Bau-Projekt. Ich kann mich kaum noch konzentrieren. Ich bin seit über 12 Stunden pausenlos unterwegs, davon 8 Stunden durchgehend in der Notaufnahme. Irgendwann kommt der Bus. Hält mit der hinteren Tür auf meiner Höhe, macht diese aber nicht auf. Der Fahrer ist doch an mir vorbeigefahren, er hat mich doch gesehen. Warum öffnet er nicht die Tür? Ich überlege, ob ich eine Schusswaffe im Rucksack habe. Habe ich nicht. Ich setze mein freundlichstes Lächeln auf. Ich rolle nach vorne. Das Ziel ist nah wie nie. Stelle mich an die letzte Stelle derer, die alle nacheinander einsteigen und ihre Fahrkarte vorzeigen müssen.

„Nehmen Sie mich bitte mit?“, frage ich. – „Ich komme gleich nach hinten.“ – „Das ist nicht nötig, es reicht, wenn Sie die Tür aufmachen und den Bus absenken.“ – „Ich komme schon und klappe die Rampe aus.“ – „Sie können sitzenbleiben, wenn Sie den Bus absenken.“ – „Nein, ich komme mit nach hinten.“

Ist es so schwierig? Ich brauche keinen roten Teppich. Er öffnet hinten die Tür. Senkt den Bus aber nicht ab. Inzwischen klappt ein anderer Fahrgast die Rampe aus und wird vom Fahrer angepöbelt: „Das dürfen Sie nicht. Stellen Sie sich vor, Sie klemmen sich die Finger!“ – Darf ich jetzt (bitte, bitte) ohne großes Theater nach Hause? Ich rolle die Rampe hoch, stelle mich rückwärts gegen die sogenannte Anprallfläche. Der Busfahrer klappt die Rampe ein, kommt zu mir, fasst meinen Rollstuhlrahmen neben meinem linken Knie an und rüttelt daran. „Ist der fest?“, fragt er und kommt dabei so nah an mich heran, dass ich seinen Atem ins Gesicht bekomme. Ich drehe meinen Kopf zur Seite.

„Nicht anfassen“, erwidere ich. Er sagt: „Ich muss das kontrollieren. Vorschrift ist Vorschrift.“ – Mir platzt der Kragen. Irgendwann ist meine Toleranz erschöpft. „Halten Sie mal ein bißchen Abstand hier. Ich mag das nicht, wenn mir jemand so dicht auf die Pelle rückt, ja?!“ – „Sie können auch gleich wieder aussteigen“, ranzt er zurück. Ich sage: „Jetzt haben Sie es ja kontrolliert. Können wir jetzt losfahren?“ – „Wann wir losfahren, bestimme immer noch ich. Und nur ich. Haben Sie das verstanden?“

Um kurz nach ein Uhr bin ich endlich zu Hause. Will (muss) duschen. Es kommt nur kaltes Wasser. Ich suche nach einem Beißholz. Vergeblich. Es ist keins da.


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