Fahrdienst und andere Katastrophen

Weiblich, 21 Jahre alt, wartet laut Computer seit zwei Stunden und 38 Minuten mit akuten Rückenschmerzen. Es ist kurz nach zwölf Uhr nachts. Verpflichtend ist der Nachtdienst im Praktischen Jahr zwar bei uns nicht, aber wehren kann man sich trotzdem kaum dagegen. Es gibt da so Erwartungen.

Ich bin alleine in der chirurgischen Aufnahme. Natürlich sind Pflegekräfte da, und ein Sicherheitsmensch döst in einem Sozialraum vor einem flimmernden Fernseher. Approbierte Mediziner? Gerade Fehlanzeige. Alles, was Dienst hat, steht im OP. Versucht sich an einer älteren Dame, die kopfüber aus dem Fenster gestürzt ist und am Ende doch noch verstirbt. Und an einem Patienten, dem vor einigen Stunden ein Teil der Leber entfernt worden war, und bei dem es jetzt zu Blutungskomplikationen kommt. Für mich gibt es hin und wieder mal Nachschub, meistens völlig betrunken, meistens mit kleineren Schnitt- oder Platzwunden. Die wirklich ernsten Dinge werden in der Regel vorher über die Leitstelle des Rettungsdienstes angemeldet.

Notfalls müsste ich die Oberärztin wecken lassen. Die hat aber schon eine lange Schicht hinter sich und entsprechend nur noch Notfallbereitschaft. Von mir wird erwartet, dass ich alles, was nicht wirklich lebensbedrohlich ist, geräuschlos und zügig abarbeite. Und vor allem korrekt. Unter Anleitung zu arbeiten bedeutet im letzten Semester eben nicht mehr, dass mir ständig jemand auf die Finger schaut. Mit den meisten Dingen bin ich mir schon irgendwie sicher. Es gab Zeiten, da hätte ich das nicht für möglich gehalten. Weil gefühlt nichts richtig war von dem, was ich tat.

Die Dame, die mit akuten Rückenschmerzen nachts in eine Notaufnahme kommt, sitzt im Rollstuhl. Eine angeborene Querschnittlähmung. Die Patientin ist stark übergewichtig, ein BMI von über 50. Die Mutter, die dabei ist, setzt sich auf den derzeit nicht genutzten Drehstuhl im Untersuchungsraum und fängt sofort zu reden an: „Das ist ja klasse, dass wir hier auf eine Rollstuhlfahrerin treffen. Sie haben bestimmt mehr Verständnis für die Probleme, die man als behinderter Mensch so hat. Mehr Verständnis als mancher nicht behinderter Mensch.“

Ich stelle mich vor und frage die Patientin: „Was führt Sie hierher?“ – „Meine Mutter. Hahaha.“

Okay. Ich lächel einmal müde und versuche es noch einmal: „Okay. Und warum sind Sie hierher gekommen?“ – Wenn sie jetzt sagt, weil ich sie aufgerufen habe, schreibe ich ihr eine Überweisung für den Krankenhauskindergarten.

Die Mutter sagt: „Meine Mischell soll ja studieren. Politikwissenschaften, wissen Sie? Und der Fahrdienst, der sie von zu Hause zur Uni bringen soll, den müsste der Landkreis bezahlen. Tut er aber nicht. Und da …“

„Entschuldigung, aber warum sind Sie heute in die Notaufnahme gekommen? Welches akute Problem haben Sie?“

„Das Studium sollte diese Woche losgehen. Aber Mischell kann nicht teilnehmen, weil der Landkreis den Fahrdienst nicht bezahlt. Wir brauchen jetzt dringend ein Attest, dass sie einen Fahrdienst braucht.“ – „Um halb eins in der Nacht? Aus einer Notaufnahme?“ – „Ja, der Hausarzt hat schon was geschrieben und beim Orthopäden kriegen wir so schnell keinen Termin.“ – „Ich frage noch einmal: Haben Sie akut irgendwelche Beschwerden?“ – „Das ist sehr wichtig mit der Bescheinigung, Mischell verpasst ja Inhalte …“ – „Ich rede mit Mischell. Einzig und allein mit Mischell.“

Mischell sagt: „Es stimmt, was meine Mutter sagt.“ – Und die fährt fort: „Und später ist sie völlig außen vor, weil alle anderen sich schon angefreundet haben und sie hat es sowieso immer so schwer wegen ihrer Behinderung. Wir haben es schon immer schwer.“

„Ich verstehe, dass Sie da Probleme haben. Aber die können wir hier nicht mitten in der Nacht in einer Notaufnahme lösen. Wir sind für medizinische Notfälle hier. Sie müssten mit ihrem Hausarzt nochmal sprechen und vielleicht eine Beratungsstelle aufsuchen oder einen Rechtsanwalt einschalten. Zu Tages- und Geschäftszeiten.“ – „Unser Rechtsanwalt hat zuletzt vor 14 Tagen was geschrieben und tut jetzt wieder gar nichts.“ – „Ich kann Ihnen dabei nicht helfen.“ – „Und ich dachte, Sie verstehen das Problem als Rollstuhlfahrerin. Ich bin enttäuscht. Ich möchte Ihren Chef sprechen.“ – „Mein Chef kann Ihnen da auch nicht helfen. Sie gehen jetzt nach Hause.“ – „Ich will Ihren Chef sprechen. Wir gehen hier nicht eher raus, als bis ich den Chef gesprochen habe.“ – „Jetzt ist Schluss. Gute Nacht!“

Ich rolle ins Dienstzimmer, um den Unsinn zu dokumentieren. Muss ich ja machen. Normalerweise würde ich das gleich in dem Untersuchungsraum machen, aber dann würden die Damen daneben stehen und mich weiter zutexten. Kurz darauf höre ich ein Klirren. Die Mutter hat im Flur ein Bild von der Wand gerissen und auf die Erde fallen lassen. Absichtlich. Der Mensch vom Sicherheitsdienst steht schon in seiner Zimmertür. Eine männliche Pflegekraft steht auf und sagt: „Hausverbot, raus. Ihre Daten haben wir, Rechnung kommt.“

Im selben Moment klingelt das Telefon. Mit einem Rettungswagen wird aus einer Reha-Klinik eine 38 Jahre alte Frau mit chronischer Dickdarm-Entzündung verlegt, akuter Verdacht auf eine Darm-Perforation. Also irgendwas ist undicht und Darm-Inhalt läuft in den Bauchraum. Das ist ein echter Notfall, der sofort operiert werden muss. Der Pflegekollege holt bereits die Oberärztin aus dem Schlaf. Kurz darauf geht schon die Tür auf und ein aufgeregtes Sanitäterteam brüllt mehrfach „Schockraum!“ durch den Gang, während es die Patientin, ja, jene mit Darm-Perforation, hineinschiebt.

Die Patientin sei beim Ausladen aus dem Rettungswagen plötzlich ohnmächtig geworden. Ich kommentiere das bewusst nicht. Die Oberärztin trabt mit mir auf derselben Höhe über den Gang. Während ich eben beim Tippen des Mischell-Irrsinns fünf Mal gähnen musste, bin ich jetzt schlagartig wieder hellwach. Ich rechne damit, dass ich einen zweiten Venenzugang legen soll. Jedoch hat die Frau noch überhaupt keinen Zugang. Aber wenigstens ein EKG ist dran. Puls 135. Nicht gut.

„Dein Job“, sagt die Oberärztin zu mir. Zwei Sekunden später höre ich
mein Adrenalin in den Ohren rauschen und fühle, wie meine Wangen zu glühen beginnen. Ich brauche drei lange Sekunden, bis ich einen klaren Gedanken fassen kann. Meine Hände werden schweißnass. Bis eben war ich immer auf alles vorbereitet, was ich tun sollte. Bis jetzt war immer alles nach Plan, alles besprochen und ausdiskutiert. Jetzt wollte man von mir sofort die richtigen Entscheidungen. Im Praktischen Jahr. Hallelujah.

Sauerstoffsättigung bei 85%. Keine Zeit für die Fragen, wieso die Sanitäter keinen Notarzt nach-alarmiert haben und wo der Anästhesist bleibt. Ich habe sie jetzt an der Backe. Sie braucht dringend mehr Sauerstoff im Blut, ihr Atemweg muss gesichert werden und es besteht ein
hohes Risiko, dass ihr Magen nicht leer ist (und sei es durch zurück gelaufenen Inhalt des an der Perforationsstelle geschwollenen Darms) und damit die Soße in Kürze durch die Speiseröhre nach oben und so auch gleich in die Lunge fließt. Meine Oberärztin legt bereits einen Venenzugang.

Ohne dass ich nachdenken muss, ist mir der Weg schlagartig klar. Ich soll laut sagen, was wir machen und klare Anweisungen an das Team geben.
Meine Oberärztin würde mich schon korrigieren, wenn es falsch läuft. Sie korrigiert mich nicht. Ich werde von Minute zu Minute ruhiger. Die Magensonde durch den Mund liegt im ersten Anlauf richtig und fördert fast einen halben Liter dunkelbraunen Brei nach oben. Das Gewicht der Patientin schätze richtig mit 55 Kilogramm und dosiere die Narkosemedikamente auf Anhieb richtig. Mir fällt auch sofort der saure pH-Wert des Blutes auf. Ich entscheide mich auch korrekt für eine schnelle Intubation und lege und blocke den Tubus, also den Luftröhrenschlauch, beim ersten Versuch richtig. Mit dem Beatmungsgerät gibt es dann zwar technische Probleme, so dass ich für etwa eine halbe Minute mit einem Beutel beatmen muss, bevor die Pflegekraft den Fehler findet, den ich aber nicht zu vertreten hatte.

Am Ende kann ich die Patientin stabil in den OP übergeben. Als sie rausgeschoben wird, merke ich zum ersten Mal, dass mein Hemd völlig durchnässt ist. Schweiß rinnt mir über das Gesicht und über die Brust. Ein älterer Krankenpfleger, kurz vor der Rente, mit Glatze und unverwechselbarem Geruch nach dem Deo einer großen Hamburger Körperpflegemarke, klopft mir auf die Schulter und sagt: „Das war gut. Wirklich.“ – Ein anderer daneben steigt auch noch ein und sagt: „Ja, im Ernst. Ich bin auch beeindruckt.“

Ich bedanke mich artig, rolle zum Klo und fange erstmal das Heulen an. Was für ein emotionaler Stress. Warum? Wofür? Irgendwelche Schläuche irgendwo reinzustecken ist eigentlich keine Kunst und man kann es Dutzende Male an Puppen üben, dann unter Anleitung und Aufsicht im OP. Wenn es gut läuft. Die Schwierigkeit besteht darin, die (zum Teil hochpotenten) Medikamente dazu so zu dosieren, dass der Patient am Leben
bleibt und es ihm möglichst gut geht. Und was hier von mir erwartet wird, passt gefühlt eher in die Facharzt-Ausbildung eines Narkosearztes als in ein Praktisches Jahr.

Ursache für die ganze Aufregung war eine Komplikation mit einem zuvor angelegten künstlichen Darmausgang. Das konnte korrigiert werden, und so wie es aussieht, wird die Patientin das alles gut überstehen. Sie liegt derzeit noch auf der Intensivstation.

Um kurz vor Sechs komme ich von einer betrunkenen Person, die sich den Kopf angeschlagen hat, zurück ins Dienstzimmer und höre auf dem Flur die Oberärztin, wie sie gerade mit einer Kollegin über mich spricht. Ich bekomme nur Teile mit, aber die sind eindeutig: „Am Anfang hat sie gezittert und ist etwas zu zaghaft eingestiegen, aber dann völlig souverän und eiskalt abgearbeitet. Die war bei Uschi in der Anästhesie, das merkst du sofort.“ – „Toll. Nee echt, find ich klasse. Vor allem im Sitzen, das mach ihr mal nach.“ – „Naja sie hat das nie anders gemacht. Aber im Alltag kannst du das vergessen, da kriegt das ganze Team Rücken,
weil sich alle ständig bücken müssen. Aber das ist ja vielleicht auch gar nicht ihr Ziel.“ – „Nö, ich glaub, sie will Pädiatrie weitermachen. Hast du sie schonmal mit Kindern gesehen? Ich hatte neulich so einen kleinen Knirps hier, der fuhr gleich voll auf sie ab. Ich dachte erst wegen des Rollstuhls, aber nee.“ – „Sie ist aber auch eine andere Generation, das darfst du nicht vergessen. Wenn ich einen Knirps mit High-Five begrüße, zeigt er mir doch einen Vogel.“ – „Ja, aber wir hatten auch schon PJ-ler hier, die Kinder grundsätzlich zum Heulen gebracht haben.“

Okay. Bevor ich eitel werde, zeige ich mich und rolle um die Ecke. „Guten Morgen!“, grüße ich die neu hinzugekommene Kollegin. Die ich sehr nett finde. Die bisher immer sehr freundlich zu mir war und – anders als viele andere – auch immer gerne mal Kleinigkeiten über sich und ihre  ochter erzählt, mit der sie alleine zusammen lebt. „Guten Morgen, wir lästern gerade über dich.“ – „Das hab ich mir schon gedacht.“


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