Ständer und Heizung

Bekanntlich ist mit einem Nachtdienst ja nicht aller Nächte Morgen.
Oder so ähnlich. Es ist gerade halb zwei Uhr nachts, ich darf alleine mit drei Pflegekräften und einem Sicherheitsmenschen die chirurgische Notaufnahme über Wasser halten, während alles, was nicht mehr studiert, entweder im OP steht oder schläft. Während ich mich schon um ein schreiendes Kind mit einem unreifen Eiterpickel, zwei betrunkene Frauen mit Schürfwunden, einen jungen Mann mit einem gebrochenen Unterarm, einen älteren Mann mit einem Splitter im Handteller und eine alte Dame mit einer verstauchten Hand gekümmert habe, kommt als nächstes ein Mann mit einem angeblichen Abszess im Genitalbereich.

Eine männliche Pflegekraft, die vor einiger Zeit aus Russland nach Deutschland kam, kommt ins Dienstzimmer, als ich mich gerade darum kümmere, dass der junge Mann mit dem gebrochenen Unterarm zum Röntgen kommt. „Kannst du bitte gucken in die Vier? Ein Mann sagt, er hat Abszess am Penis. In Wirklichkeit ich glaube, er hat aber nur Erektion. Ich glaube, er ist ein Strolch.“ – „Ein Strolch? Mit Ständer? Also ein Ständerstrolch?“ – „Ja, sowas.“ – „Wie alt?“ – „Einundzwanzig.“

Einen Moment später rolle ich in die „Vier“, schließe die Schiebetür hinter mir, stelle mich vor und frage ihn: „Was führt Sie hierher?“ – „Ich habe einen Abszess am Penis.“ – „Mitten in der Nacht? Waren Sie damit schon bei Ihrem Hausarzt?“ – „Nein. Denn bisher tat er nicht weh.“
– „Sie haben also Schmerzen.“ – „Ja. Ich habe eine Dauer-Erektion wegen
dem Abszess. Es ist mir ein bißchen peinlich. Aber ich habe eben extra noch einmal für Sie geduscht.“ – „Darf ich mal sehen?“

Er macht seine Jeans auf, drunter trägt er einen schwarzen Baumwoll-Slip, aus dem oben was heraus guckt. „Setzen Sie sich dorthin bitte, und dann zeigen Sie mir mal den Abszess.“ – „Hier“, sagt er. – „Ziehen Sie die Unterhose bitte mal runter und dann zeigen Sie mir das mal bitte so, dass ich das sehen kann.“

Er nimmt grinsend seine Hoden in die Hand. „Hier. Alles voller Eiter.
Können Sie das bitte absaugen?“ – „Sind Sie schonmal damit aufgefallen?“, frage ich, ohne eine Miene zu verziehen. Er guckt mich mit einem Rehblick an und sagt: „Bitte. Ich hab solchen Druck. Sie können doch bestimmt gut blasen.“ – „Eben sollte ich noch saugen. Sie werden sich jetzt wieder anziehen und schleunigst die Kurve kratzen. Oder muss ich erst die Bullen rufen?“ – „Och menno, wir zwei hätten wirklich viel Spaß haben können. Sie sind echt etwas verklemmt. Aber irgendwie auch ne Süße.“ – „Tschüss.“

Meine Chefin meint später, ich hätte die Polizei rufen müssen. Ich habe ihn für einen Spinner gehalten, der mal irgendeinen Kick brauchte. Zu viele Hormone. Die Daten von ihm haben wir ja, aber nachträglich will
meine Chefin dann die Polizei doch nicht informieren.

Eine Stunde später kommt eine Frau, spärlich bekleidet, hinein und drückt sich ein Handtuch gegen die Stirn. Mit ihr kommt ein eher hagerer
Mann mit dicker, auffälliger Halskette. Sie blutet links frontal an der
Stirn aus einer Platzwunde. Sie sagt kein Wort, sondern der Mann redet für sie: „Mach sie wieder hübsch, okay?“

Als ich sie frage, wie das passiert ist, antwortet er: „Du sollst keine dummen Fragen stellen.“ – Ich frage nach: „Ich muss das aber später aufschreiben. Also?“ – Er sagt: „Schreib auf, sie ist gegen einen
Heizkörper gestolpert. Und jetzt mach endlich, bevor sie gleich kein Blut mehr im Körper hat.“

„Ich habe doch sie gefragt, oder?“ – „Ich will nur helfen. Sie versteht kein Deutsch.“

Die Frau hat frische Würgespuren am Hals und diverse blaue Flecke an den Unterarmen. „Das muss ich nähen, sonst hört die Blutung nicht auf. Das sind aber die falschen Fäden.“ – Ich öffne drei Schubladen und schließe sie wieder. „Weißt du, ob wir drüben noch Fäden für das Gesicht
haben? Die müssen ganz fein sein, diese hier sind zu grob. Da bleibt dann eine Narbe, und das wollen wir ja nicht.“ – Der Pfleger, der die Sachen schon richtig herausgesucht hatte, guckt mich natürlich völlig verdattert an. „Ich gucke selbst eben nach“, füge ich hinzu, bevor er was sagen kann. Dann schließt er seinen Mund und schluckt.

Ich rolle nach draußen, schnurstraks zu dem Sicherheitsmenschen. „Können Sie bitte sofort die Polizei rufen? Ich habe eine Patientin, die
offensichtlich körperlicher Gewalt ausgesetzt war und in Begleitung eines Typens ist, der sich sehr aggressiv benimmt.“

Ich komme mit einigen Utensilien aus dem Nachbarraum wieder. Die Begleitperson wird hoffentlich nicht merken, dass es im Prinzip die gleichen sind, wie ich sie eben schon in der Hand hatte. Und die Pflegekraft wird hoffentlich auch nichts sagen.

Sie sagt nichts, sondern hat alles bereits hübsch mit Tüchern abgedeckt. Kurz darauf kommt meine Chefin rein. Frisch vom Sofa. „Na, Frau Kollegin, kommen Sie klar?“, fragt sie mich. Ich nicke. Sie kommt näher und sagt: „Ich schau mal mit drauf.“ – „Gerne.“

Der Mann sagt: „Bleibt da jetzt ein Faden drin?“ – „Ja.“ – „Kann man das nicht kleben? So fürchten sich ihre Kinder ja, wenn sie nach Hause kommt.“ – „Das werden die Kinder schon verstehen.“

Dann klopft jemand und öffnet im selben Moment die Tür. Zwei Polizisten, eine Polizistin, alle in Uniform. Der Begleiter sagt: „Das glaub ich jetzt wohl nicht.“ – „Sie kommen bitte erstmal mit auf den Flur“, sagt der eine Polizist. Der Mann spricht etwas in einer fremden Sprache zu der Frau. Unser russischer Krankenpfleger übersetzt kurz darauf: „Du weißt, was sie hören wollen.“

Später kommen noch diverse weitere Menschen in zivil, reden mit ihm, reden mit ihr, lassen sich die Unterarme zeigen, kontrollieren alle möglichen Papiere. Ich sehe das immer nur mal zwischen zwei Patienten. Dann muss sie mit der Streifenwagenbesatzung mit, er bekommt Handschellen angelegt und muss mit den nicht-uniformierten Menschen mit.
Was genau los ist, erfahre ich nicht.

Und dann sagt meine Chefin, nicht die nette Oberärztin, sondern eine andere Kollegin, dass ich hier besser nicht die Polizei geholt hätte. Ich würde so riskieren, dass die Patientin nicht mehr wiederkommt. Sie will nämlich keinen Kontakt zur Polizei. Und entsprechend verliert sie einen als sicher geglaubten Ort, an dem ihre Verletzungen versorgt werden.

Ich weiß, dass es besser wäre, zu nicken, aber ich höre mich reden: „Das ist doch nicht Ihr Ernst?! Ich lasse mich doch hier von solchen Leuten nicht in deren kriminellen Sumpf ziehen! Die Frau war doch nicht freiwillig hier, das heißt, sie ist immer drauf angewiesen, dass ihr Zuhälter sie irgendwo hinbringt, nachdem er sie gegen die Heizung geschleudert hat. Somit kommt sie auch nicht freiwillig hierher. Oder wenn, dann weiß sie jetzt, dass sie hier Hilfe bekommt. Die Streifenpolizei wird doch zum selben Ergebnis gekommen sein wie ich, sonst hätten sie doch die Kripo nicht nachgeordert und ihn am Ende auch nicht mitgenommen.“

„Sie wissen nicht mal, ob das ihr Zuhälter ist und ob er sie gegen die Heizung geworfen hat. Und sollte es so sein: Was machen Sie, wenn ihn nachher sein Rechtsanwalt wieder raus holt, er hierher kommt und seine Knarre auspackt?“ – „Beten. Aber ich lasse mich trotzdem nicht einschüchtern von solchen Typen. Wenn unser Staat die Frauen nicht beschützen kann und solche Leute frei herumlaufen lässt, dann ist das schlimm. Aber ich möchte für die Frau alles getan haben, was in meiner Macht steht und ich halte es für meine Pflicht, die zuständigen Stellen zu informieren. Und ich glaube daran, dass die auch Wege finden, um der Frau zu helfen.“ – „Das ist auch Ihre Pflicht. Aber dennoch bringt es nichts, außer dass Sie sich in Gefahr begeben. Sich und andere Leute, für die Sie Verantwortung haben.“

Es hat keinen Zweck. Vielleicht brauche ich erstmal dreißig Dienstjahre, um so gleichgültig oder so erfahren und weise zu werden. Oder ich muss erst einmal erschossen werden. Wer schreibt dann meinen Blog weiter?

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