Risiko Rollstuhl

Das ewige Problem mit der Sicherheit ist noch immer nicht behoben. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass die seit Ewigkeiten allseits akzeptierte Ausrede, mit der Menschen mit Behinderung leider noch immer systematisch diskriminiert werden, endlich mal kritischer betrachtet wird. Seit Jahren macht mich diese Argumentation, Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer (und andere Menschen mit Behinderung) stellten insbesondere bei Veranstaltungen ein Sicherheitsrisiko dar, regelmäßig aggressiv.

Es ist noch kein Monat her, da brach über einen Privatsender ein Shitstorm herein, als eine Frau in den Sozialen Medien behauptete, eine Platzanweiserin in einem Fernsehstudio habe zwei Menschen mit Down-Syndrom auf Plätze umgesetzt, die nicht im Erfassungswinkel der Kameras waren. Sie soll gesagt haben, dass man „sowas“ nicht im Fernsehen sehen wolle.

Ich war nicht dabei. Ich weiß nicht, was vorgefallen ist. Ich bin noch nie umgesetzt worden, war aber auch noch nie in so einem Fernsehstudio. Der Privatsender gab später an, dass Sicherheitsgründe („Unfallverhütung und Brandschutz“) diese Umsetzung nötig gemacht hätten. Die beiden Menschen mit Behinderung seien nach dem Umsetzen näher am Notausgang gewesen, die ursprünglichen Plätze seien nur über eine steile Treppe erreichbar gewesen. Soll also heißen: Es purzeln alle
die steile Treppe runter, weil zwei Frauen mit Down-Syndrom im Weg sind? Soll somit auch heißen: Das Sicherheitskonzept sieht vor, dass alle Gäste jung und dynamisch das Haus drei Stufen auf einmal nehmend verlassen, sobald irgendwo Rauch aufsteigt?

Ich kenne genügend Leute, die so verpeilt sind, dass sie sich nach außen öffnende Türen beim Reingehen vor den Kopf schlagen und mit Platzwunden in die Notaufnahme kommen. Und ich kenne einige Menschen mit
Down-Syndrom, die sehr sportlich sind. Genauso wie es unterschiedlich fitte Menschen im Rollstuhl gibt. Aber im Evakuierungsfall könnten sie im Weg stehen.

Ja, tatsächlich, das könnten sie. Wenn die Veranstaltungsstätte so gebaut ist, dass es im Evakuierungsfall zum Gedränge kommt. Und mittendrin ein Rollstuhlfahrer ist, der sich nicht bewegt. Alle fallen über ihn drüber, werfen ihn mitsamt seines Stuhls um, was auch immer. Das wäre tatsächlich dramatisch. Genauso dramatisch wäre es, wenn Menschen totgequetscht oder totgetrampelt werden, ohne dass ein Rollstuhl im Raum war. Immer dann stellt sich die Frage: Waren die Rettungswege korrekt dimensioniert?

Wohl nicht. Und genau das ist auch der Grund, warum Menschen im Rollstuhl noch heute regelmäßig von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen werden. Vielleicht nicht überall, aber dennoch immer wieder. Und an Orten, an denen diese unverschämte Haltung bereits in der
Vergangenheit öffentlich und vielleicht sogar politisch thematisiert worden ist, macht man es halt subtil mit Verweis auf den Brandschutz oder die allgemeine Sicherheit.

Ich kann nicht verstehen, dass man in den letzten Jahren ein Theater baut, in dem Menschen mit Behinderung im Evakuierungsfall ein Hindernis darstellen. Sorry, aber wer hat denn bei der Planung nicht damit gerechnet, dass Menschen im Rollstuhl oder beispielsweise mit Down-Syndrom auch Veranstaltungen besuchen wollen? Und warum nicht? Konnte da jemand vor lauter Dollarzeichen in den Augen nicht mehr geradeaus gucken?

Ich picke als weiteres Beispiel einen Musical-Besuch heraus. Nun bin ich kein Mensch, der gerne Musicals besucht, insbesondere nicht jene, die nur noch konsum- und kostenorientiert produziert werden. Ganz besonders krass finde ich jene, bei denen die Musik aus der Dose kommt (und nicht mehr von einem anwesenden Orchester). Früher, als ich noch zur Schule ging (und noch nicht rollte), haben mich zwei Musical-Aufführungen mal wirklich so fasziniert, dass ich mir davon auch
eine CD gekauft habe. Danach bin ich noch zwei Mal eingeladen worden, und diese beiden Male war es grauenvoll. Also wer mich ärgern will, schenkt mit teure Musical-Karten.

Einmal war der einzige Rollstuhlplatz am Rand in der ersten Reihe (bei immerhin rund 2.000 Besucherplätzen, also 0,5 Promille). Der Blickwinkel auf die Bühne war so eingeschränkt, dass man nur etwa ein Drittel der ganzen Geschichte sehen konnte. Man saß ganz rechts und musste links an den Kulissen vorbei schauen. Umsetzen auf einen festen Platz war nicht buchbar.

Ein zweites Mal gab es vier Rollstuhlplätze bei rund 1.350 Besucherplätzen (rund 3 Promille), jedoch waren die ebenfalls ganz außen
in der ersten Reihe angeordnet, so dass man fast nichts sah. Ich weiß, dass sich viele Menschen beschwert haben, auch bei Behörden, und ich habe in meinem damaligen jugendlichen Optimismus einen Brief an den Theaterbetreiber geschrieben und die Antwort bekommen, dass es ein Sicherheitsproblem gebe, das nicht zu ändern sei, weil das Haus zu alt wäre und auch unter Denkmalschutz stehe.

Nun, aktuell, wünscht sich eine Freundin schon viele Jahre einen Besuch in einem bestimmten Musical. Und der findet in einem Theater statt, das in den letzten fünf Jahren neu gebaut oder unter enormen Kostenaufwand komplett saniert und umgebaut worden ist.

Es gibt genau zwei Rollstuhlplätze (1 Promille), davon einer ganz links und einer ganz rechts im Saal, im ersten Block, in der teuersten Kategorie. Buchbar nur telefonisch gegen weiteres Entgelt. An diesen beiden Stellen ist ein Sitz herausnehmbar – so dass man sich am Rand im Rollstuhl sitzend hinstellen kann. Umsetzen auf einen bequemen, weichen Sitz in angenehmer Höhe ist weiterhin nicht möglich. Und wir dürfen auch
nicht nebeneinander sitzen. Weil, wie gesagt, ein Platz rechts im Saal ist und einer links. Und diese Plätze sind auch im regulären Verkauf. Das heißt: Wenn jemand diesen Platz (mit Stuhl) buchen möchte, dann ist der Rollstuhlplatz (also die Option, dass man den Stuhl herausnimmt) natürlich belegt. Durch einen Fußgänger.

Warum das so ist? Das liege am Sicherheitskonzept. Immerhin könnten im Evakuierungsfall ja Menschen über die Rollstühle fallen. Falls meine Freundin und ich uns auf herkömmliche Plätze umsetzen wollen und die Rollstühle dann irgendwo am Rand stehen. Oder wenn wir woanders stehen –
und nicht direkt am Eingang.

Bitte nicht falsch verstehen: Ich rede nicht davon, inmitten eines Blocks sitzen zu wollen. Aber warum kann man nicht beispielsweise in der
letzten Reihe eines Blocks sechs bis acht mittige Sitze dreh- und herausnehmbar machen, so dass man sich von hinten einfach umsetzen kann?
Der Rollstuhl bleibt dahinter stehen. Oder, wenn sich jemand nicht umsetzen kann, stellt er sich halt dorthin, wo man vorher einen Stuhl herausnimmt. Bei 2.000 Plätzen sollte das doch möglich sein, eigentlich sogar an mehreren Stellen in unterschiedlichen Preiskategorien. Und die einzigen, die im Evakuierungsfall hinter der letzten Sitzreihe entlang rollen, sind dann wohl die Rollstuhlfahrer.

Und es soll mir niemand sagen, dass die Nachfrage nicht da ist. Das Haus, von dem ich rede, ist regelmäßig mindestens einen Monat im Voraus komplett ausverkauft. Wenn nicht mehr Rollstuhlfahrer kommen, fühlen sich diese wohl verarscht. Oder rausgeekelt.

Naja, dann gehe ich mit meiner Freundin eben lecker essen. Und singe ihr vielleicht ein Liedchen vor. Vielleicht.

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