Da war noch was

Wer sehr emotionale Dinge gerade nicht so gut verträgt, sollte diesen Beitrag lieber nicht lesen.

Ich habe eigentlich ganz viele Dinge im Kopf, über die ich gerne etwas schreiben möchte. Über eine wunderbare Freundschaft (nicht: Partnerschaft) an meinem heimlichen Rückzugsort am Meer. Über eine wunderbare Partnerschaft. Über Maries Wunsch, nun doch auch in die Pädiatrie (Kinderheilkunde) gehen zu wollen, nachdem sie zunächst mit Innerer Medizin (wie ihre Mama) liebäugelte. Und vieles mehr. Aber stattdessen schreibe ich erneut über aktuelle Ereignisse aus meinem Praktischen Jahr. Die es im Moment wirklich in sich haben.

Gestern kam eine Kollegin zu mir und sagte: „Frau [Chefärztin, die die chirurgische Klinik leitet] möchte dich sprechen. Jetzt.“ – Jene Kollegin,
die mich in der letzten Woche zurechtgewiesen hatte, weil ich die Polizei hinzu gezogen habe, steht daneben und sagt: „Man will dir bestimmt einen Orden verleihen.“ – Bevor ich irgendwas erwidern kann, kommt sie dicht an mich heran, ordnet meinen Hemdkragen (der vorher eigentlich ordentlich war) und sagt dabei leise: „Kannst du denn gar nichts richtig machen?“ – Dann gibt sie mir einen Klaps gegen die Wange.
Die Kollegin, die die Nachricht überbracht hat, schüttelt mit dem Kopf:
„Nun lass doch mal gut sein.“ – Haifischbecken.

Ich klopfe an, rolle ins Vorzimmer hinein. Die Sekretärin fragt mich:
„Sie werden erwartet?“ – Ich nicke. Die Sekretärin macht eine Handbewegung in Richtung der Tür, hinter der ihre Chefin sitzt. Ich klopfe erneut, rolle hinein. „Frau Socke, ich grüße Sie. Bitte schließen
Sie die Tür. Ich habe gerade von Ihrem nächtlichen Einsatz im Schockraum erfahren. Sie haben zwar anfangs etwas zögerlich gehandelt, aber trotzdem: Alle Achtung! Frau [Oberärztin] hat vorgeschlagen, das als besondere Leistung zu bewerten und entsprechend in Ihre Beurteilung einfließen zu lassen.“ – „Danke.“ – „Nach dem, was aber geschehen ist, muss ich Ihnen leider sagen, dass ich diesen Vorschlag nicht unterstützen werde.“

Ich schluckte. Ich konnte mir vorstellen, was jetzt kam. Und es kam: „Sie dürfen nicht eigenmächtig entscheiden, die Polizei oder andere Behörden zu rufen. Sie hätten Ihre Kollegin dazuholen müssen.“ – „Ja.“ –
„Und warum, um Himmels Willen, haben Sie das nicht getan?“ – „Weil ich mich bedroht fühlte und Angst hatte. Vor diesem Mann, von dem sich mein Herz sicher war, dass er diese Frau verdroschen und gewürgt hatte. Der keine zwei Meter von mir entfernt stand und von mir verlangte, keine Fragen zu stellen, sondern die Frau ‚wieder hübsch‘ zu machen. Ich hatte
im Gefühl, dass er diese Frau beherrschte, und ich hatte Angst, ihn mit
einer falschen Handlung dazu zu bringen, auch mich in seine Gewalt zu bringen. Die Frau hat aus Angst keinen Pieps gesagt. Er behauptete, sie könne die Sprache nicht, und dachte offenbar, ich hätte noch nie mit Menschen zu tun gehabt, die kein Deutsch können. Er strahlte eine Eiseskälte aus.“

„Und dann haben Sie einfach so irgendwo angerufen?“ – „Nein, ich bin raus, weil ich Material aus dem Nachbarraum holen wollte. In Wirklichkeit habe ich den Sicherheitsdienst gebeten, die Polizei zu rufen, weil der Mann latent aggressiv ist und ich den Verdacht habe, dass er die Frau misshandelt und in ihrer Freiheit einschränkt.“ – „Und dann kam der Sicherheitsmensch mit Ihnen?“ – „Nein, er hat die diensthabende Ärztin ins Zimmer geschickt.“ – „Sie kam vor der Polizei in den Raum?“ – „Ja. Eigentlich gleich, nachdem ich Bescheid gesagt hatte und wieder bei der Patientin war.“

Die Chefärztin seufzte. Und fragte weiter: „Welche Abwägungen haben Sie denn unternommen, bevor Sie sich entschlossen haben, die Polizei rufen zu lassen?“ – „Schweigepflicht gegen ärztliche Garantenpflichten. Ich habe es als Nothilfe gesehen, weil sie dazu nicht in der Lage war. Und ich fühlte mich bedroht.“ – „Ich möchte Ihr couragiertes Handeln nicht tadeln. Und werde daher dieses eine Mal ein Auge zudrücken. Aber nur
dieses eine Mal. In allen Kliniken sind die Verantwortungen klar geregelt. Auch, wenn ich ebenfalls die Polizei hätte rufen lassen, das haben Sie nicht zu entscheiden. Ihre Aktion ist bis zum Direktor hochgegangen. Der hat sich Ihre Akte kommen lassen und den frischen Vermerk über Ihren nächtlichen Schockraum-Einsatz gelesen. Das hat Sie gerettet, Frau Socke. Der Direktor hat mich in der Mittagspause angesprochen, mir die Akte in die Hand gedrückt und Disziplinarmaßnahmen
mir überlassen. Sie können froh sein, dass diese Angelegenheit für Sie keine schlimmeren Konsequenzen hat.“ – „Danke, Frau [Chefärztin].“ – „Sie können jetzt an Ihren Arbeitsplatz zurück. Guten Tag!“ – „Guten Tag, Frau [Chefärztin].“

Ich rollte zurück. Im Dienstzimmer angekommen, traf ich auf die Kollegin, die mir die Nachricht überbracht hat. Sie guckte mich an und sagte: „Hast du jetzt doch einen Anschiss gekriegt?“ – Ich nickte vorsichtig, seufzte: „Sie macht Action wegen der Sache mit der Prostituierten.“ – „Soweit ich gehört habe, war der Typ völlig zugekokst
und wurde auch schon gesucht.“ – „Und das sagt ihr mir erst jetzt?“ – Die Oberärztin kam um die Ecke und sprach mich an: „Na? Kopf ab oder Konfetti?“ – „Eher Kopf ab. Aber danke für den schriftlichen Beistand.“ –
„Gerne geschehen“, sagte sie und tätschelte mir über die Schulter. Die andere Ärztin warf schnippisch ihr Haar zurück und ging hämmernden Schrittes nach draußen.

Ich bin ja vielleicht noch etwas grün hinter den Ohren, aber könnte es vielleicht sein, dass die Chefärztin deshalb so genau wissen wollte, wann die diensthabende Kollegin mit im Raum war (also noch vor der Polizei), weil eben genau sie nichts gemacht hat? Sie wusste ja, dass die Kavallerie anrückt und hätte das ja auch noch steuern können. Ich will gar nicht von mir ablenken. Aber mir da so blöde am Kragen rumfummeln, obwohl sie offensichtlich selbst eine aufs Dach bekommen hat
– solche Leute liebe ich. Nicht.

Keine zwei Minuten später kommt mit seinem Vater ein Junge, zwölf Jahre alt, durch die Tür. Krümmt sich vor Schmerzen. Hat mehrere blutende Wunden, auch im Gesicht, wird vom Aufnahmeraum gleich in einen Behandlungsraum umgeleitet. Eine Pflegekraft eilt voraus. Die Oberärztin
weist ihn mir zu. Ich rolle hinterher.

Jeder Vater wäre wohl aufgeregt und würde nicht abwarten können, dass
endlich jemand seinem Sohn hilft. Dieser Vater ist eingeschüchtert bis apathisch, antwortet nur auf Fragen. Ich habe keine dreißig Jahre Berufserfahrung, aber dass hier was nicht stimmt, habe ich im Urin. Ich stelle mich vor, gebe dem Jungen die Hand (was ich aus hygienischen Gründen nur in ganz besonderen Fällen mache), dem Vater erstmal nicht. Vor allem, um den Vater weiter zu verunsichern. Ich frage den Jungen: „Wie ist das passiert?“ – Der Junge guckt zum Vater. Der Vater sagt: „In
der Schule hat ihn ein Mitschüler mit einem Fahrradschloss geschlagen.“
– „In der Schule?“ – „Ja, auf dem Schulhof.“ – „Und du weißt, wie der Junge heißt?“ – Der Junge guckt wieder seinen Vater an. Er antwortet: „Leider nicht.“

Leider nicht? Oder leider noch nicht? Wenn das mein Kind wäre, würde ich doch alles daran setzen, das sofort herauszufinden. Und das entsprechend auch kommunizieren. „Bist du hingefallen?“ – Der Junge schüttelte den Kopf. – „Hast du was an den Kopf bekommen?“ – Der Junge schaut den Vater an. Ich grätsche dazwischen: „Du musst doch wissen, ob du was an den Kopf bekommen hast.“ – Natürlich hatte er das, denn er blutete am linken Jochbogen. Ich bat die Pflegekraft, sich um zwei Schürfwunden zu kümmern, während ich zur Oberärztin wollte. Der Mann fragte mich ängstlich: „Wohin wollen Sie denn?“ – Ich lächelte ihn an, ohne ein Wort zu sagen, und verschwand aus der Tür.

Die Oberärztin tippte im Dienstzimmer am Computer. Ich schloss die Tür hinter mir. Sie fragte: „Häusliche Gewalt?“ – „Angeblich Schulhof. Da passt aber vieles nicht.“ – „Oh nein, Socke, nicht schon wieder.“ – „Ja doch, schauen Sie doch selbst.“ – „Ich komme gleich dazu. Einen Moment. Und niemanden anrufen, okay?“ – „Haha.“

Ich eröffne dem Vater gerade, dass wir eine Aufnahme vom Schädel brauchen, um auszuschließen, dass was gebrochen oder verletzt ist, als die Oberärztin reinkommt. Der Junge wird zum Röntgen geschoben, die Oberärztin fragt gleich den Vater: „Schulhof, ja?“ – Der nickt. – „Und die Schule hat Sie angerufen?“ – „Ja. Äh. Nein.“ – „Ja, was jetzt, wie sind Sie denn auf die Sache aufmerksam geworden?“ – „Mein Sohn hat mir eine Nachricht geschrieben.“ – „Und Sie wohnen direkt neben der Schule?“
– „Warum?“ – „Weil das nicht passt, was Sie hier erzählen! Ihr Sohn blutet so stark, dass jede halbwegs verantwortungsvolle Lehrkraft einen Rettungswagen rufen würde. Und bei solcher Gewalt auch die Polizei. Macht sie aber nicht. Sondern lässt ihn blutend liegen und wartet auf den Vater. Finden Sie das logisch?“ – „So war es ja nicht.“ – „Wie war es dann? Erklären Sie es mir!“ – „Ich bin Ihnen gar keine Rechenschaft schuldig.“ – „Doch, das sind Sie. Weil, wenn Sie es nicht plausibel erklären können, und das können Sie nicht, dann muss ich das Jugendamt einschalten. Und das werde ich auch tun.“ – „Wozu? Ich bin der Vater.“ –
„Um zu klären, was da vorgefallen ist. Und um die Rechte Ihres Kindes zu sichern. Setzen Sie sich bitte einen Moment in den Wartebereich. Wir rufen Sie wieder auf.“ – „Rufen Sie jetzt das Jugendamt an?“ – „Schaun wir mal.“

Einen Moment später kommt ein Anruf von der Rettungsleitstelle über das rote Telefon. „In etwa 6 Minuten: Polytrauma, weiblich, 28 Jahre alt, von Pkw angefahren, laufende Reanimation.“ – Die Oberärztin sagt zu
mir: „Du kommst mit und assistierst mir.“ – „Ja.“ – Flexibilität ist heute wieder hoch im Kurs.

Einen Moment später stehen gefühlte 20 Leute im Schockraum und warten
auf die schwerstverletzte Frau. Die Anspannung und das Adrenalin steigen von Minute zu Minute. Obwohl man cool bleiben soll. Meine Hände fangen zu schwitzen an in den Handschuhen. Die Tür geht auf. Mein Puls steigt nochmal. Zwei Feuerwehrleute schieben die Trage. Die Notärztin geht nebenher und hält in einer Hand einen mobilen EKG-Monitor, mit der anderen presst sie eine Infusion in die Frau. Eine Sanitäterin beatmet die Patientin mit einem Beatmungsbeutel. Ein weiterer Sanitäter kniet oben auf der rollenden Trage über der Patientin und führt eine Herzdruckmassage durch. Die Frau hat unter anderem eine lebensbedrohliche Beckenfraktur, die notfallmäßig mit einem Tuch komprimiert ist.

Zehn Sekunden später liegt die Frau vor uns auf dem Tisch. Die Notärztin berichtet, eine Autofahrerin sei von der Straße abgekommen und
hätte sie als Radfahrerin auf dem Radweg eingefangen. Wie wir später erfahren, hat eine junge Fahrerin zuvor ein anderes Auto in der Nebenspur touchiert, sich dabei erschreckt und das Lenkrad verrissen, direkt in Richtung der Radfahrerin. Es wird vermutet, dass sie sich vom Smartphone hat ablenken lassen. Es stellt sich heraus, dass die Radfahrerin bei dem Unfall neben einer notfallmäßig mit einem Tuch komprimierten Beckenfraktur auch eine offene Kopf- sowie massive Hirnverletzungen erlitten hat. Schnell steht fest: Ihr ist nicht mehr zu
helfen. Der Anblick ist grauenvoll.

Es ist nicht meine erste sterbende Patientin. Aber das, was danach kam, war für mich zum ersten Mal so extrem. Ich habe es schon einmal geschrieben: Nur weiterlesen, wenn man emotional gerade fest mit beiden Pobacken im Sessel sitzt.

Es kommt kurz danach ein Mann in den Wartebereich, der eine große Reisetasche trägt. Aus dem Reißverschluss der Tasche guckt eine große bunte Maus mit langem Schwanz. An der Hand hat er einen kleinen Jungen, vermutlich 5 bis 6 Jahre alt. Der Mann setzt sich erst hin, um 20 Sekunden später wieder aufzustehen. Dann kommt er zu mir an die Tür des Dienstzimmers, klopft. Stellt sich vor, er sei benachrichtigt worden, dass seine Frau mit dem Fahrrad gestürzt und hierher gebracht worden sei. Ob ich ihm sagen könnte, wo sie gerade sei. Falls sie über Nacht bleiben müsse, habe er ein paar Sachen zusammengepackt. Fast scherzhaft sagt er: „Damit sie nicht in euren karierten Nachthemden schlafen muss. Die hat sie schon bei seiner Geburt gehasst. Kaiserschnitt, wissen Sie?“

Jetzt bloß nichts anmerken lassen. „Meine Kollegin kümmert sich gleich um Sie. Nehmen Sie doch bitte noch einen Moment dort Platz.“ – „Ja. Wissen Sie denn, wie es meiner Frau geht?“ – „Das ist die Patientin
meiner Kollegin. Es tut mir leid, ich kann Ihnen dazu keine Auskunft geben. Sie müssen sich einen kleinen Moment gedulden, ich schicke die Kollegin sofort zu Ihnen.“ – „Ja, sicher.“

Ich fasse es kurz: Dem Mann musste erklärt werden, dass seine Frau und damit auch die Mutter des Kindes gerade verstorben ist. Es musste geklärt werden, ob die Organe für eine Organspende entnommen werden dürfen. Eine Krisenfrau wurde gleich dazu geholt. Der Junge, so erzählte
mir die Oberärztin später Rotz und Wasser heulend im Dienstzimmer, habe
gefragt, wo Mama ist. Der Papa hat ihm gesagt, dass Mama jetzt beim lieben Gott ist. Und der Junge hat geantwortet: „Okay, dauert das lange?
Wann kommt sie denn wieder?“

Da sind mir dann auch die Tränen übers Gesicht gekullert. Das Leben kann so ungerecht sein. Kurz danach klopft es an der Tür. Die Frau vom Kindernotdienst. Guckt erschrocken in unsere Gesichter. Da war ja noch was.

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