Zweierlei Maß

Gerade noch hatte sie damit geprahlt, dass sie nie erwischt wird, wenn sie mit bis zu 200 km/h dort fährt, wo eigentlich nur 70 km/h erlaubt sind. Gerade noch habe ich mein Unverständnis darüber ausgedrückt, und gerade noch habe ich mir anhören müssen, was für ein kleinkarierter Mensch ich sei, wenn ich mich halbwegs an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halte. Fahrverbote gebe es schließlich erst ab 40 km/h drüber, plus Tachoabweichung, plus Toleranz, dann könne man auch 120 fahren, wenn 70 ausgeschildert ist.

Sehr häufig fahre ich mit Tempomat und stelle dann drei bis fünf Kilometer pro Stunde mehr ein, um die Differenz des Tachos wieder auszugleichen. Letzte Woche habe ich erst beim Herausfahren aus der 30er-Zone gemerkt, dass ich bis eben in einer solchen gefahren bin. Allerdings waren die Straßen dort schon so gebaut, dass ich nie über 40 km/h gekommen bin. Zwanzig zu schnell außerorts oder auf einer Autobahn ist auch schon vorgekommen. Ich bin sogar schon mal mutwillig verkehrt herum durch eine Einbahnstraße gefahren. Sie war drei Meter lang und eine Schikane, um den Durchgangsverkehr durch ein Wohngebiet einzudämmen. Nachts um halb drei hatte ich keinen Bock, nochmal komplett zehn Minuten um den Pudding zu kurven und hätte mit meiner 10minütigen Fahrt über das Kopfsteinpflaster vermutlich die schlafenden Menschen mehr genervt als durch dieses Manöver. Aber, so wie die Kollegin, 130 mehr auf der Uhr? Würde mir im Traum nicht einfallen. Dafür ist mir mein Lappen viel zu heilig.

Die Quittung kam jetzt per Post. Meine Kollegin soll angeblich über 1.000 Euro zahlen, bekommt vier Punkte und muss drei Monate zu Fuß gehen. Ein Stoppschild hat sie wohl auch noch überfahren und auch zwischenzeitlich ein Handy am Ohr gehabt. Hinter ihr fuhr „leider“ ein Videowagen. Und nun hat sie herumgeheult, wie ungerecht doch die Welt sei. Ist klar: Die Regeln gelten für alle anderen, und werde ich erwischt, sind alle anderen ungerecht zu mir. Und kleinkariert. Ich sag nur: Wer mit dem Feuer spielt, kommt darin um. Ich hoffe, das ist ihr eine Lehre, ansonsten dürften sie ihr den Lappen gerne ganz wegnehmen. Bevor sie andere mit ihrem riskanten Fahrstil in Gefahr bringt. Oder in den Rollstuhl. Nicht wahr?

Ein anderer Mensch, der es mit Regeln nicht so genau nimmt, gleichzeitig aber mit aller Vehemenz dafür kämpft, dass andere sich korrekt verhalten, ist mein derzeitiger Vermieter. Ich bin sehr froh, an meinem derzeitigen Studienort eine barrierefreie Wohnung bekommen zu haben, und es ist ja auch nur für eine begrenzte Zeit. Barrierefreie Wohnungen sind Mangelware. Ihr Neubau wird überall öffentlich und oft nicht unerheblich gefördert.

Das Haus, in dem meine Wohnung liegt, ist noch keine zehn Jahre alt. Der Vermieter (der das Haus auch gebaut hat) hat sich an einem barrierefreien Wohnhaus versucht, aber nicht, weil er Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen ein Dach über dem Kopf geben wollte, sondern in erster Linie, weil er öffentliche Zuschüsse abgreifen wollte.
Dieser Eindruck drängt sich mir zumindest auf. Aus Gründen.

1. Regenrinnen zur Dachentwässerung müssen in fast allen deutschen Städten in das öffentliche Sielnetz eingespeist werden. Zumindest bei Neubauten. Was überhaupt nicht geht, ist, dass das Regenwasser vom Dach über ein Regenrohr direkt auf den öffentlichen Gehweg geleitet wird und dort alles unter Wasser setzt. Bei dem Haus, in dem ich am Studienort zur Miete wohne, verschwinden alle Regenfallrohre im Boden, bis auf eins: Das endet am oberen Ende der steinernen Rollstuhlrampe, etwa zwanzig Zentimeter über dem Boden. Schüttet es, ist es unmöglich, mit trockener Hose und trockenen Füßen daran vorbei zu kommen. Eine Zeitlang hatte jemand eine Tischplatte so gegen die Wand gelehnt, dass sie das Rohr verdeckt und entsprechend der Strahl an der Innenseite der Tischplatte herab läuft und nicht quer über die Rampe sprudelt. Dadurch war die Rampe natürlich nicht mehr in voller Breite nutzbar. Aber zumindest entstand nicht mehr der Eindruck, man sei auf einem Wasserspielplatz.

2. Die besagte Rampe, über die man in das Haus kommt, darf eine maximale Steigung von 6% haben. Das bedeutet: Will man 60 Zentimeter Höhenunterschied überwinden, muss sie zehn Meter lang sein. Vermessen habe ich diese Rampe nicht, aber ich würde mal tippen, dass es sich um einen Meter Höhenunterschied handelt und sie zwei Mal neun Meter lang ist, mit einem Zwischenpodest auf halber Höhe. Nun könnte man sich schon fragen, warum man den ebenerdigen Eingang einen Meter höher legt (das Haus hat noch einen zweiten Eingang, der sich auf Gehweghöhe befindet, allerdings führt der nur ins Treppenhaus, zum Aufzug muss man vier Stufen hoch). Der Hammer ist aber: Bei der Bauabnahme hat man wohl nur die Länge nachgerechnet, aber sich nicht dafür interessiert, ob die Steigung gleichmäßig ist. Auf den ersten zwei Metern ist nämlich überhaupt keine Steigung vorhanden, dort sammelt sich auch stets das Regenwasser, dahinter kommt wesentlich mehr Steigung als eigentlich zulässig. Ich tippe mal auf 10 oder 11 Prozent. Für mich kein Problem, solange ich keinen Einkauf auf dem Schoß habe. Kommentar des Eigentümers: „Die Rampe ist abgenommen.“

3. Direkt vor der Aufzugstür im Erdgeschoss ist eine Schräge. Man muss also, um in den Aufzug zu kommen, einen Höhenunterschied von etwa 15 Zentimeter überwinden. Um den Aufzug zu rufen, muss man einmal kräftig Anschwung nehmen, auf den Knopf drücken, und rückwärts wieder zurück rollen. Um in die Kabine zu gelangen, braucht man ebenfalls Anschwung. Problem dabei: Der Aufzug hält oft bis zu fünf Zentimeter unterhalb der Geschoss-Ebene. Also mit Schwung die Schräge hoch, oben die Vorderräder anheben und dann langsam auf den Hinterrädern zirkelnd in die Kabine ablassen. Mit etwas Glück sackt die Kabine dabei noch ein bis zwei Zentimeter ab – und macht dann bei offenen Türen eine Ausgleichsbewegung, bis sie wieder bündig steht. Und das ist mit Einkauf oder Laptoptasche auf dem Schoß eine Herausforderung. Die Anlage hat aber gerade wieder neu TÜV bekommen. Und das einzige, was der bemängelt hat, ist, dass das Hydraulik-Öl in zehn Jahren noch nie getauscht wurde.

4. Was dazu führt, dass der Aufzug ungeheuer laut ist. Was Aufzüge, die nicht an Seilen hochgezogen werden, sondern mit Öldruck hochgepumpt werden, ohnehin sind. Hier ist es deshalb nochmal extra lustig, dass man
das Aggregat direkt mit der Wand verschraubt hat. Ohne Schalldämpfung. Fährt der Aufzug aufwärts (und vielleicht sogar noch in die oberste Etage), habe ich im Schlafzimmer bei geschlossenen Türen eine dröhnende Geräuschkulisse von bis zu 55 Dezibel.

5. Fast hätte ich vergessen, dass sich die Rauchschutztüren in den Etagenfluren nicht automatisch öffnen und daher alle verkeilt sind. Ansonsten würde nämlich niemand mit einem Rollstuhl ohne fremde Hilfe hindurch kommen. Auch ich nicht. Und dann ist da noch das seitliche Gefälle in den Fluren. Bis zu 3,5 Prozent. Legt man also einen Tennisball an die linke Wand, rollt er zur rechten. Ich schätze mal, dass man die Wohnungen mit den barrierefreien Duschen nachträglich etwas höher gelegt hat, denn das seitliche Gefälle ist immer nur da, wo die barrierefreien Wohnungen sind. Die Decke ist allerdings gerade, so dass die Wand auf einer Seite 3,5 cm höher ist als auf der anderen. Das seitliche Gefälle nervt Rollstuhlfahrer überhaupt nicht – sie sehen es ja im Dunkeln sowieso nicht. Flurbeleuchtung ist nämlich nur sporadisch verfügbar. Gut beraten ist der, der ein Handy mit Taschenlampe hat.

Es gibt noch ein Dutzend ähnliche Kuriositäten in diesem Miezhaus. Ich hoffe, es reicht aus, um einen Eindruck zu bekommen. Das Land hat übrigens alle öffentlichen Fördergelder nach Besichtigung des Hauses durch einen Experten vor Ort anstandslos ausgezahlt. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ein barrierefreies Wohnhaus oder ein „Water & Skate Park“ beantragt wurde.

Muss ich jetzt noch erwähnen, dass alle Mieter, deren Schuhe im Hausflur stehen, eine schriftliche Abmahnung wegen Brandgefahr bekommen, mit der Androhung, beim nächsten Schuh fristlos gekündigt zu werden?

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