Das aktuelle Drittel meines Praktischen Jahrs verbringe ich in der Chirurgie. Und gerade in der Notaufnahme eines großen Krankenhauses. Chirurgische und internistische Notaufnahmen sind dort getrennt, wenngleich sie im selben Gebäude, nur in unterschiedlichen Abschnitten liegen. Plötzlich kommt ein Anruf: Könnt ihr mal bitte eure Rollstuhlfahrerin rüberschicken? Ein zwölfjähriges Mädchen, Cerebralparese, geistig etwa auf dem Stand einer Sieben- bis Achtjährigen, klagte in der Schule plötzlich über Bauchweh und hat gespuckt. Schreit jetzt wie am Spieß und lässt nichts mit sich machen. Die Mama ist unterwegs, braucht aber noch mindestens eine Dreiviertelstunde.
Ist ja nicht das erste Mal und nicht die erste Geschichte dieser Art.
Socke rollt hinüber, orientiert sich am Lärm. Und der ist ohrenbetäubend. Meine Güte, kann das Mädchen kreischen. Vielleicht sollte ich ihr auf die Schnelle noch ein T-Shirt drucken lassen: „Ich bin dein kleiner Tinnitus.“
Pinker Rollstuhl, pinke Jeans, pinkes Top, lange, geflochtene blonde Haare, süßes Gesicht, vielleicht 140 Zentimeter groß und geschätzt 28 bis 30 Kilogramm schwer. Sieht überhaupt nicht krank aus. Guckt mich mit
großen, strahlend blauen Augen an. Und sagt schlagartig keinen Pieps mehr. „Na, wer bist du denn?“, frage ich sie. Sie guckt mich weiterhin mit großen Augen an. „Oder hast du keinen Namen?“ – Ich drehe mich zu der anwesenden Ärztin. „Schreib mal auf: Süßes Mädchen ohne Namen.“ – „Ich heiße Emma und ich bin nicht süß. Nun spinn mal nicht rum! Jeder Mensch hat einen Namen!“ – „Okay, dann schreib auf: Emma. Und wieso krähst du hier so laut? Das hört man ja einmal quer durch das ganze Gebäude!“
„Ich will keine Spritze!“ – „Wer will dir Spritzen geben?“ – „Weiß ich nicht. Warum sitzt du im Rollstuhl?“ – „Weil ich nicht laufen kann. Und warum sitzt du im Rollstuhl?“ – „Ich kann laufen! Willst du sehen?“ –
„Ja.“ – „Guck! So.“
Emma lief wie ein Pinguin einmal quer von der einen Wand zur nächsten. Dann sagte sie: „Und jetzt will ich zu Mama.“ – „Mama kommt gleich. Sie fährt jetzt mit dem Auto hierher und holt dich ab. Aber das dauert noch einen kleinen Moment. So lange müssen wir noch warten. Aber das kriegen wir zusammen hin, oder? Wie alt bist du denn schon? Elf?“ – „Nein, zwölf. Guck mal: Zehn Finger und nochmal zwei dazu.“ – „Hast du nur zehn Finger?“ – Sie guckte auf ihre Hände und begann zu zählen. Oh nein, die war wirklich süß. Keine Widerrede. Sie sagte: „Ich hab nur zehn. Aber du hast doch auch nur zehn.“ – „Echt?“ – Ich zählte: „Zehn neun acht sieben sechs – und fünf sind elf. Huch?“ – „What?!“ – „Elf. Nochmal. Zehn, neun, acht, sieben, sechs – und fünf sind elf. Komisch.“
Ich nahm mir den Schallkopf vom Sonografiegerät, machte Glibber drauf, hob mein Hemd hoch und schmierte mir damit auf dem Bauch herum. „Huch, ist das kalt.“ – „Was machst du da?“ – „Ich gucke gerade, ob man mein Frühstück noch sehen kann. Das ist nämlich ein Zauberstab, mit dem man sein Essen nochmal im Fernsehen sehen kann. Guck mal, da auf dem Fernseher. Siehst du?“ – Sie nickte, obwohl da natürlich für sie nicht wirklich etwas zu erkennen war. „Huch, da ist ja mein Toastbrot von heute morgen. Und eine Kartoffel vom Mittagsessen. Erkennst du sie?“ – Sie lachte. Ich machte weiter. „Das sind die Nudeln von gestern abend.“ –
Nur nicht mein Herz schallen, ich glaube, das würde sie wohl erschrecken.
„Geht das bei mir auch?“ – „Ich weiß nicht. Wollen wir das mal ausprobieren?“ – Sie nickte eifrig. „Leg dich mal da hin, dann sieht man
alles besser.“ – Die anwesende Kollegin schüttelte ungläubig ihren Kopf. Emma fuhr fort: „Warte … so. Und du musst raten, was ich gegessen habe.“ – „Okay, ich rate … Pommes frites. Nee. Moment. Sind das Fische?“
– Sie lachte: „Irgendwo müssen noch zwei Bonbons sein.“ – „Moment, die finden wir auch noch.“
Ja, ich möchte später mal in die Pädiatrie. Denke ich mir so, als die
Mutter Emma abgeholt hatte. Vielleicht muss man wegen einmal spucken nicht gleich einen Rettungswagen rufen. Es war nämlich nichts los. Vermutlich hat sie sich einfach nur aufgeregt. Es gab nämlich eine neue Schulbegleitung bzw. Schulassistenz für Emma, und mit der hatte sie sich
gleich gestritten.
Emma ist weg, ich will gerade wieder zurück in die Chirurgie, da wird
in einem der im Eingang stehenden Rollstühle ein alter Mann hereingeschoben. Bläuliche Lippen, kalter Schweiß, aufgeregt. „Kann sich
bitte mal jemand um meinen Urgroßvater kümmern? Der bekommt keine Luft“, sagt ein junger Mann, vielleicht 20 Jahre alt. Den alten Mann, dessen Gesicht voller Altersflecken ist, dessen Ohren riesengroß sind, schätze ich auf deutlich über neunzig Jahre. Von seinem akuten Problem abgesehen, sieht er eigentlich noch recht fit aus. Gut gekleidet. Er spricht auf Plattdeutsch (was für die Gegend, in der ich mein Praktisches Jahr mache, eher ungewöhnlich ist) sowas wie: „Dass ich das alles noch erleben muss!“
Es juckt mir in den Fingern. Nach dem äußerst gut gelaufenen Einsatz bei Emma bin ich nahezu euphorisiert. Ich gucke die approbierte Kollegin
an: „Darf ich?“ – „Den alten Herrn?“ – Ich nicke. Sie sagt: „Ja, mach, ich komme mit.“
Die Schwester lässt er nicht an sich heran. Als hätte ich es geahnt. Er kann vor Luftnot kaum reden, aber sagt, wieder auf Plattdeutsch: „Lass mich in Ruhe! Ich will das alles nicht mehr.“ – Die Schwester versteht ihn nicht. „Sie müssen deutsch mit mir reden, sonst verstehe ich nicht, was Sie wollen.“ – „Scher dich zum Teufel“, japst er, wieder auf Plattdeutsch. Und dann auf Hochdeutsch: „Weißt du, was das heißt? Leck mich am Ar***.“
Ob mein Plattdeutsch, das ich von meiner Oma und für zwei Weihnachtsgedichte in der Grundschule gelernt habe, ausreichen wird? Um ihn zu verstehen, allemal. Aber sprechen? Eigentlich kann ich es nicht. Aber es geht besser als ich denke. „Na, mein Junge? Warum bist du so missmutig?“, spreche ich ihn auf Plattdeutsch an. Plötzlich guckt er mich mit großen Augen an, greift nach meiner Hand. „Mein Mädchen! Es ist
doch alles schei*e. Ich will nicht mehr. Ich kriege keine Luft, ich quäle mich, und meine Zeit ist abgelaufen. Ich bin neunundneunzig. Ich mag nicht mehr.“ – „Du kriegst keine Luft, sagst du. Nimmst du Medizin dagegen?“ – „Ach was. Ich geh nie zum Arzt. Ich hab nie einen Arzt gebraucht. Alles, was von alleine gekommen ist, ist auch von alleine wieder gegangen. Aber mein Urenkel fährt mich ins Krankenhaus. Er meint es gut.“
„Pass auf, mein Junge. Du stirbst nicht, sondern du quälst dich hier jetzt die nächsten Stunden, wenn wir nichts machen. Es war schon richtig
von deinem Urenkel, dass er dich hierher gebracht hat. Darf ich wenigstens mal auf deine Lunge horchen, was da los ist?“ – „Nee.“ – „Ich
will dir helfen.“ – „Alle wollen mir helfen. Aber ich will nicht mehr.“
– „Ein Jahr vor Hundert gibst du auf? Das ist doch nicht dein Ernst. Dir gehts jetzt dreckig, das seh ich, aber gib mir doch wenigstens eine Chance.“ – „Was willst du tun?“ – „Einmal deine Lunge abhorchen. Und ein
EKG machen. Mehr nicht.“ – Er zog seinen Pullover und sein Hemd aus. Mit meiner Hilfe. „Tu, was du nicht lassen kannst.“ – „Du musst mithelfen. Komm, mal richtig ausatmen. Feste. Willst du selbst mal hören, was bei dir da los ist? Das pfeift wie ein Orkan bei dir da drinnen. Hast du mal mit Asthma zu tun gehabt?“
„Nein, so einen neumodischen Kram gab es bei uns nicht.“ – „Mal geraucht?“ – „Im Krieg haben wir alle geraucht. Danach nicht mehr. Für Zigaretten gab es kein Geld.“ Die approbierte Kollegin kommt mit ihrem Stethoskop dazu. Der alte Mann sagt fast schon böse: „Du nicht. Sie hat gefragt. Sie hat Anstand.“ – „Du bist aber auch ein harter Brocken. Meinst du nicht, vier Ohren hören besser als zwei? Ich lerne nämlich noch. Von ihr.“ – Am Ende ließ er meine Kollegin doch ran. Dann sagte ich: „Du kriegst jetzt ne Nadel von mir gelegt. In die Vene. Und dann kriegst du einen Tropf. Und dann ist der Spuk gleich vorbei.“ – „Ich hab
doch gesagt, ich will nicht mehr.“ – „Du kriegst von mir was, damit du gleich wieder richtig Luft bekommst. Du fühlst dich in zehn Minuten wieder wie neu geboren. Gib mir eine Chance.“ – „Das wäre jetzt schon die zweite Chance. Du lässt ja sowieso nicht locker.“
Theophyllin wirkt sehr schnell. Nach fünf Minuten war er ganz ruhig, fast schon flauschig. Seine Gesichtsfarbe kehrte zurück. „Na, mein Junge, hab ich dir zu viel versprochen?“ – „Darf ich dich mal drücken, mein Mädchen? Was hast du mit dem alten Mann gemacht?“ – „Ich hab dir was gegen dein Asthma gegeben. Und das kannst du auch mit nach Hause kriegen. Und dein Hausarzt verschreibt dir das auch. Und dann gehst du nächste Woche wieder tanzen. Was hältst du davon?“ – „Du bist aber ne Charmante. Darf ich fragen, wie das passiert ist, mit dem Rollstuhl?“ – „Ich bin angefahren worden. Auf dem Weg zur Schule.“ – „Das tut mir sehr
leid.“, sagte er und bekam feuchte Augen.
„Darf ich dir einen Vorschlag machen?“ – „Ja.“ – „Wir nehmen dich hier auf, du kriegst ein Einzelzimmer, damit du dir in deinem Alter hier
bei uns nichts mehr einfängst, und dann gibst du uns drei Tage. Wir finden raus, woher das Asthma kommt und welches Zaubermittel du brauchst, damit du keine Beschwerden hast. Zu viel von dem Zeug hier ist
nämlich auch nicht gut, dann wird dir übel.“ – „Woher kann das kommen?“
– „Hast du ne Katze zu Hause? Oder vielleicht reagiert deine Lunge auf bestimmte Blumen. Oder auf Anstrengung. Das kann man aber deutlich verbessern. Hast du ja heute gesehen. Drei Tage brauchen wir, dann bist du wieder zu Hause.“ – „Jo. Mok wi.“ – „Und einen Herzinfarkt hattest du
nicht. Dein Herz ist putzmunter. Sagt das EKG.“ – Er nahm noch einmal meine Hand und drückte sie. Ich sagte: „Und zum Hundertsten sagst du Bescheid, dann komm ich vorbei mit einem Geburtstagskuchen.“ – Jetzt lachte er.
Manche Menschen machen sich das Leben unnötig schwer. Ich verstehe ja, dass man sich nicht quälen will. Und nicht ins Krankenhaus will. Und
nicht an Apparate angeschlossen vor sich hin vegetieren möchte. Würde ich auch nicht wollen. Aber das hier war kein Hexenwerk. Theophyllin ist
natürlich nicht das Mittel der Wahl für die Dauerbehandlung. Und es behandelt auch keine Entzündung, die typischerweise vorliegen wird. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass er das mit den üblichen Medikamenten und
den üblichen Applikationsformen in den Griff bekommen wird. Besser als völlig unbehandelt wird es in jedem Fall werden.
Am Wochenende war ich endlich mal wieder in Hamburg. Marie besuchen. Kaum bin ich dort, regelt ein Mann ohne Hemd bei 12 Grad Außentemperatur
auf einer viel befahrenen Kreuzung den Verkehr. Typisch Großstadt. Ich weiß, was ich vermisst habe. Und kaum habe ich den hinter mir gelassen, fahre ich fast eine alte Frau mit Rollator um, die in dunkler Kleidung auf einer sechsspurigen Straße wandert. Natürlich ohne Beleuchtung. Ich dachte mir: Bleib mal dahinter, bevor sie noch überfahren wird. Und schalte mal deine Dashcam ein…