Studium, Nachbar, Partner

Es wird allerhöchste Zeit, dass mein Praktisches Jahr vorbei ist. Ich fühle mich, als machte ich im Moment außer arbeiten, lernen und schlafen nichts anderes mehr. Derzeit zeichnen sich Interesse und Arbeitsbereitschaft enorm aus. Und die Bereitschaft, die Scheißjobs ohne großes Aufsehen abzuarbeiten. Entsprechend habe ich acht bis vierzehn Stunden pro Tag oft ununterbrochen mit Menschen zu tun, die einfach nur anstrengend sind. Respektlos, laut, egoistisch, dumm. Und oft auch sexistisch. Mein gestriges Highlight war die Frage, ob man einen Sonografie-Schallkopf auch vaginal einführen könnte und ob das Spaß macht. Als ich direkt zum roten Faden zurückkehrte, griff der Mann um die 40 das Thema noch einmal auf und fragte direkt noch einmal nach, ob ich jemanden kennen würde, der sich das Ding schonmal eingeführt hat. Seine Frau sitzt daneben und lacht sich kaputt. Und nein, es war kein Stab-Sono, wie es der Frauenarzt benutzt und das aussieht wie eine elektrische Zahnbürste, sondern ein ganz normaler Konvexscanner, wie man ihn auch vom Babys-Gucken kennt. Den wird sich niemand freiwillig irgendwo einführen.

Zu meinem verstorbenen Nachbarn gibt es auch einige Neuigkeiten: Inzwischen haben sich Kinder dieses Mannes daran gemacht, die Wohnung aufzuräumen und den ganzen Müll in blauen Säcken aus dem Fenster zu werfen (und unten mit einem Pritschenwagen einer Autovermietung zur Mülldeponie zu bringen). Tatsächlich klingelten sie am Freitag hier und wollten sich mit einer großen Tafel Schokolade bei mir bedanken. Sie hätten gehört, dass ich mich um ihn gekümmert hätte. Leider hatten beide seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater, da er diesen nicht wünschte. Wir haben uns eine Zeitlang unterhalten.

Danach hätten beide Kinder noch bis vor etwa vier Jahren regelmäßig Kontakt gehabt und ihren (geschiedenen) Vater etwa zwei bis drei Mal pro Jahr besucht. Sie hätten auch noch etwa einmal monatlich bis zum Schluss mit ihm telefoniert. Er sei immer klar gewesen und orientiert, konnte mitreden, auch zum Tagesgeschehen. In den letzten vier Jahren wollte er schlagartig keinen Besuch mehr und hat es immer wieder mit neuen Ausreden erklärt. Letztlich hätten sich die Kinder oft die Frage gestellt, was wichtiger ist: Der Kontakt und das Vertrauen – oder das Hinwegsetzen über die Wünsche (niemanden zu sehen), verbunden mit Klarheit (über die Situation), aber vermutlich auch mit einem Vertrauensverlust. Aufgesprochen auf den massiven Alkoholmissbrauch, sagten beide Kinder, dass der Vater bereits vor 30 Jahren alkoholkrank war und nie eine Therapie gemacht hat. Schon als beide zur Schule gingen, hat er jeden Abend bis zu 10 Dosen (0,5 Liter) Bier getrunken. Erst später kam auch noch Hochprozentiges dazu.

Das heißt im Klartext, dass er seit dreißig Jahren kaum mehr nüchtern war. Selbst wenn er normal gebaut war, normal gegessen, sich normal bewegt hat, tagsüber kein Alkohol getrunken hat: Bis 5 Liter Bier abgebaut sind, braucht es wohl rund 20 bis 24 Stunden. Wenn ich mir das vorstelle … nicht nur die Menge, die man anschließend pinkeln muss, sondern auch die Ausfälle, die das mitbringt! Ich habe einmal auf einer Party an einem Badesee an einem warmen Sommerabend über mehrere Stunden verteilt insgesamt drei große Flaschen kühles Bier getrunken. Dazu normal gegessen (es wurde gegrillt, gab dazu Brot und Salate und später noch Knabberzeugs). Okay, ich bin nicht so groß und wiege nicht so viel, ich bin eine Frau, das ist nicht vergleichbar. Dennoch: Die dritte Flasche war mir schon zu viel. Ich war nach zwei Flaschen schon so durch den Wind, dass mich plötzlich alle Jungs süß fanden. Und ich hatte gefühlt auch alle lieb. Am Ende war ich froh, dass wir dort gezeltet haben und ich nicht noch irgendwo hinrollen musste.

Ich bin froh, dass auch mein derzeitiger Partner kaum Alkohol trinkt, nicht raucht und auch keine Drogen nimmt. Wir hatten am letzten Wochenende endlich mal wieder viel Zeit für uns. Während mir meine wenigen früheren Beziehungen immer sehr viel bedeutet haben, sehe ich das inzwischen etwas lockerer. Damit ist nicht gemeint, dass wir eine offene Beziehung führen und jemand noch mit anderen Leuten ins Bett geht. Im Gegenteil: Wir gehen beide sehr wohl von Exklusivität aus. Ich halte mich daran auch, und ich vertraue ihm, dass er es auch tut. Mit „etwas lockerer“ meine ich die Hoffnung, den Glauben, vielleicht sogar den Anspruch daran, dass diese Beziehung für immer halten wird. Dass wir in zwei, drei, fünf, zehn Jahren noch zusammen sind. Wenn es so ist und
wir damit glücklich sind, ist es schön (denn glücklich zu sein ist immer schön), wenn nicht, hat es dafür wohl nicht gepasst. Ich will insgesamt damit sagen, dass ich mir komplett abgewöhnt habe, eine Beziehung als „Institution“ anzusehen und diese „Institution“ zu bedienen. Stattdessen „bediene“ ich die Beziehung selbst. Gerade in der schwierigen Zeit der letzten zwei Jahre habe ich einige Gedanken dazu durchaus noch einmal etwas neu ausgerichtet. Und zwar durchaus tiefgründiger als es in einen Absatz passt. Vielleicht schreibe ich darüber demnächst noch einmal ausführlicher.

Für den Moment habe ich es erwähnt, weil er nicht nur total verknallt ist und mich noch immer anhimmelt, was ich wunderschön finde, sondern mich irgendwie auch „vergöttert“. Was auch sehr schön sein kann, was mir
bei ihm manchmal aber eine Spur zu extrem wird. Zum Beispiel, wenn er die erwähnte „Exklusivität“ der Beziehung für ihn auch bedeutet, dass er sich außerhalb unseres Zusammenseins jede sexuelle Aktivität verbietet.
Als freiwillige Entscheidung, an der ich mir kein Beispiel nehmen müsse. Er sagt, er brauche eine gewisse visuelle Stimulation, wenn er masturbiert. Oder auf Deutsch: Augen zu und träumen reicht nicht. Und da
ich ihm keine entsprechenden Bilder oder Clips von mir zur Verfügung stellen möchte (nicht nur ihm, sondern niemandem, denn man weiß ja nie, wo die nach einer hässlichen Trennung oder nach einem Systemfehler noch überall auftauchen), findet er, dass er mich so betrügen würde (beim Anschauen anderer Frauen).

Und tatsächlich scheint er das auch durchzuziehen. Was aber zur Folge hat, dass er, wenn wir uns am Wochenende nach fünf bis sechs, manchmal auch zwölf bis dreizehn Tagen wiedersehen, dermaßen unter Druck steht, dass ich gerade nicht weiß, ob es ihm und uns vielleicht besser ginge, wenn er sich hier mehr Freiräume gönnen würde. Dass er, soweit es geht, gleich über mich herfällt, gefällt mir meistens sehr. Nur ist er dann nach spätestens drei Minuten fertig. Neulich kam er schon, als ich ihm die Jeans aufgemacht habe. Mengenmäßig nehme ich ihm die ein bis zwei Wochen Enthaltsamkeit sofort ab. Emotional auch. Wobei es sehr gemischte
Emotionen sein können. Neulich fing er zu weinen an und wusste gar nicht, warum. Er meinte, er wollte eigentlich lachen, aber das ginge gerade nicht. Es ginge ihm aber gut.

Wenn ich komme, möchte ich anschließend am liebsten ganz eng kuscheln. Und vielleicht in fünf, zehn, fünfzehn Minuten nochmal wieder etwas heftiger werden. Er ist, wenn er gekommen ist, erstmal offline. Er
könnte, wie ein sattes Baby im Arm, dann unvermittelt glücklich einschlafen. Das Problem ist: Mir bringt „Jeans öffnen“ vielleicht klebrige Finger, aber keine eigene Befriedigung. Das ist kein Vorwurf, im Gegenteil: Wenn ich merke, dass es bei ihm so schnell geht, mache ich
alles, damit es sich der Moment für ihn trotzdem toll anfühlt. Und es ist auch völlig okay. Sex ist für mich kein Wettbewerb, bei dem es darum
geht, wer der Beste ist. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie viel Angst ich um meine Attraktivität wegen meiner Querschnittlähmung hatte (und auch manchmal immernoch habe).

Meistens ist es dann am Samstagmorgen oder Sonntagmorgen richtig schön. Da passt dann alles. Außer dass ich abends oft mehr Hormone im Blut habe als morgens. Aber es klappt trotzdem. Gerne würde ich auch die
„stürmische Begrüßung“ noch anders genießen können. Vielleicht sind meine Erwartungen diesbezüglich zu hoch. Ich werde es wohl herausfinden müssen.

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