Ich habe die Nase gestrichen voll. Nicht mit Kokain, denn ich nehme
keins. Wenngleich mir neulich welches angeboten wurde. Allerdings in öffentlichen Verkehrsmitteln, nicht im Krankenhaus. Derjenige muss gesehen haben, dass ich derzeit am Limit bin. Dieses Praktische Jahr, das verpflichtend ist vor der letzten (mündlichen) Prüfung, hat es wirklich in sich. Ich bin derzeit vollständig in den Stationsbetrieb eingebunden. Wochenend- und Nachtdienste inklusive. Eigentlich bräuchte ich die nicht zu machen, allerdings wird in unserer Klinik erwartet, dass alle PJler eine entsprechende Ausnahme beantragen. Ich kenne niemanden im Praktischen Jahr, der sich dagegen sträubt.
Die maximale Arbeitszeit beträgt eigentlich zehn Stunden am Tag. Im Praktischen Jahr sind es acht Stunden, da man sich ja auch noch auf das Examen vorbereiten und das im Alltag erlernte Wissen nachbereiten und vertiefen soll. Mein derzeitiger Chefarzt macht nun folgende Rechnung auf: Wenn er einen approbierten Arzt vier Tage lang über zehn Stunden beschäftigt, hat dieser seine Wochenarbeitszeit erfüllt. Mehr als 40 Stunden ist nicht so ohne weiteres möglich. Die PJler arbeiten ja nur acht Stunden pro Tag, um auf 40 Stunden zu kommen, können sie dann ja auch fünf Tage arbeiten. Da er Chefarzt ist, gehe ich davon aus, dass es
Absicht ist, wenn er einerseits die Verkürzung von zehn auf acht Stunden durchwinkt, andererseits aber die zwei verkürzten Stunden nicht mit anrechnet.
Wenn man eins lernt, dann ist es „Nein sagen“, „Grenzen setzen“ und persönliche von dienstlichen Kontakten zu unterscheiden. Sowie an den richtigen Stellen die richtigen Hebel anzusetzen. Denn als kleine PJlerin kann man tausend Mal im Recht sein, es interessiert aber nicht, wenn man trotzdem die nötigen Unterschriften nicht oder so verspätet bekommt, dass man an anderen Stellen in Verzug kommt. Und andere Stellen
interessiert in der Regel nicht, ob man unverschuldet oder verschuldet etwas nicht oder nicht rechtzeitig vorlegt. Also bleibt nur: In den Arsch kriechen oder den nötigen Druck aufbauen. Nervig sowas.
Zum Glück gibt es an jeder Uni ja eine Kommission, die sich nur mit dem PJ beschäftigt, und der gehören meistens ja auch Studierende an, zu denen man eigentlich immer einen Draht findet. Und nachdem ich genau drei Mal angekündigt hatte, mich an diese zu wenden, kommt nun regelmäßig der Chefarzt persönlich auf meine Station, um mich in den Feierabend zu verabschieden. Vermutlich möchte er, dass es mir irgendwann peinlich wird, aber ich drehe den Spieß um und freue mich jedes Mal über seine Aufmerksamkeit. Ich sag immer: So schlecht kann meine Arbeit ja nicht sein, wenn er mich eigentlich gar nicht nach Hause
lassen will.
So richtig kurios war in den letzten Wochen kaum jemand. Oder ich stumpfe allmählich ab. Es gab einen etwa 50 Jahre alten männlichen Patienten, der mit seinem Auto auf der Autobahn auf ein Sicherungsfahrzeug (also diese großen rot-weiß gestreiften Anhänger, die
immer einige hundert Meter hinter einer Baustelle stehen und gelb blinken) aufgefahren ist. Wie er das fabriziert hat, wusste er selbst nicht mehr. Er denkt, er wurde abgedrängt, aber sein Schädel-Hirn-Trauma
hat ihn das vergessen lassen. Er hat sich zudem ein paar Knochen gebrochen, aber das wird alles wieder verheilen. Ich sollte nun, da er in einer Nacht Fieber bekommen hatte, morgens Blut bei ihm abnehmen. Und
auch er dachte mal wieder, ich sei eine durchgeknallte Mitpartientin. „Nein, ich bin Medizinstudentin und mache gerade mein Praktisches Jahr.“
– „Und warum sitzen Sie im Rollstuhl? Müssen Sie das auch lernen?“ – „Nein, ich bin querschnittgelähmt.“ – „Oh, wirklich?“
Ein anderer wollte sich von mir nicht untersuchen lassen. Meinte, ich
hätte schmutzige Finger und würde ihn vielleicht in der Aufregung ansabbern. Leider war mein Kollege nicht konsequent genug und hat mich rausgeschickt statt ihn. Ich habe dem Kollegen, einem Assistenzarzt, dann hinterher eine Szene gemacht, aber er meinte, damit müsse man leben. Ja, die Ansichten und Haltungen sind schon sehr verschieden.
Und gestern auf dem Weg zum Einkaufen (ja, daran, dass ich samstags einkaufen gehen muss, zeigt sich, dass ich nur noch gearbeitet und geschlafen habe; ich brauchte dringend Klopapier!) sprach mich ein Typ an. Er wäre von der Behörde und wollte mich was fragen. Bevor ich ihn nach seinem Dienstausweis fragen konnte, meinte er: „Ich setze mich dafür ein, dass hier alles so schön rollstuhlgerecht wird. Die Bordsteinkante hier habe ich auch absenken lassen. Kennen Sie noch Ecken
in dieser Gegend, die so gar nicht gehen?“ – Bevor ich ihm antworten konnte, klingelte sein Handy und er verabschiedete sich von mir, ohne eine Antwort abzuwarten.
Und keine zweihundert Meter weiter sprach mich der nächste Typ an. Stellte sich mir in den Weg und sagte: „Die junge Frau im Rollstuhl, einmal anhalten! Guten Tag!“ – Er sammelte für irgendwas Soziales, hatte
einen Pavillon aufgebaut. Genau diesen Ton mag ich überhaupt nicht und kurvte um ihn herum, ließ ihn stehen. Fehlte nur noch einer im Bus. Ich stand mit meinem Klopapier auf dem Schoß (die Packung ist zu groß für den Rucksack) auf dem Rollstuhlstellplatz, als ein Mann, geschätzt Mitte
60, mich ansprach: „Darf ich Sie mal was fragen?“
Ich dachte schon, er wollte wegen des Klopapiers wissen, ob ich trotz
Querschnittlähmung kacken kann, ob ich im Rollstuhl sitzend kacke oder ob das Klopapier überhaupt für mich ist, aber stattdessen fragte er: „Dass Sie da im Rollstuhl sitzen, ist das eine Folge vom Inzest?“ – Bitte was? Strafe Gottes, weil ich unartig war, kenne ich ja schon. Aber
dass man nach dem Geschlechtsverkehr mit einem Verwandten im Rollstuhl sitzen muss, war mir neu. Oder sind meine Eltern Geschwister? Man weiß es nicht. Ich dachte mir so: Wähle mal einen Tonfall, den er versteht. Und formulierte: „Wollen Sie paar auf die Fresse?“
„Willst du mir drohen?“ – Ich schob ihn mit ausgestreckter Hand von mir weg und sagte laut: „Halten Sie mal etwas Abstand hier und hören Sie
auf, mich zu belästigen.“ – Ein Mann kam aus dem hinteren Teil des Busses dazu: „Belästigt er Sie?“, fragte er mich. Ich konnte den hinzugekommenen Mann nicht einschätzen. Ich antwortete: „Im Moment gerade nicht.“ – „Ich bleib dann mal hier stehen.“
Zwei Stationen später stieg der Inzest-Typ aus. Ein älterer Mann, der
mir quasi gegenüber auf einem der beiden Sitzplätze saß, sprach mich an: „Das war wirklich ungezogen von ihm. Der hatte vermutlich zu viel Zeit und suchte Streit.“ – Damit könnte er recht haben.