Weihnachtswunsch

Fast zehn Jahre sind seit meinem Unfall vergangen. In der letzten Woche hatte ich meine letzten beiden Psychotherapie-Stunden. Eine weitere Verlängerung ist nicht vorgesehen und aus meiner Sicht auch nicht nötig. Meine frühere Therapeutin ist seit der Geburt ihres zweiten Kindes nicht mehr beruflich tätig, ihre Vertretung, die zwar gut, aber nicht ganz so gut wie meine erste Therapeutin war, findet, ich sei ausreichend reflektiert, um mein Leben alleine im Griff zu haben. Genauso hat sie es formuliert, und ich glaube, damit wird deutlich, was ich meine, wenn ich behaupte, sie sei nur „gut“ und nicht „sehr gut“.

Sollte ich, wie geplant, nach meiner letzten Prüfung eine fünfjährige Facharzt-Ausbildung (Kinder- und Jugendpsychiatrie) beginnen, werde ich ohnehin noch eine weitere Psychotherapie machen müssen. 150 Stunden Selbsterfahrung sind vorgesehen. Natürlich neben ganz vielen anderen Inhalten. Ich bin mir sicher, dass der Job nicht einfach werden wird, sondern ein hohes Maß an Frustration in sich trägt. Ich weiß aber, dass derartige Fachärzte händeringend überall gesucht werden. Und ich glaube, dass ich gerade im Kontakt zu Kindern und Jugendlichen sehr viel erreichen kann.

Marie möchte Kinderärztin werden, muss sich dafür ebenfalls fünf Jahre fortbilden. Ein Jahr davon ebenfalls im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie. So ganz sicher ist sie sich noch nicht, vor allem könnte es bei ihr noch sein, dass sie aktuell noch ein halbes Jahr dranhängen muss, da sie wegen einer fetten Erkältung zu lange gefehlt hat. Es könnte stundenmäßig gerade noch passen, das klärt sich aber erst im nächsten Monat. Vielleicht macht sie ihr erstes Jahr aber an derselben Klinik wie ich … dann wären wir mal wieder zusammen.

Aber zurück zur Psychotherapie: Wissend, dass wir uns heute zum letzten Mal sehen, fragt mich doch meine Psychologin, welches das größte Problem der letzten Zeit war und wie ich es gelöst habe. Ich finde das problematisch, denn es kann ja auch immer mal sein, dass etwas nicht gelöst ist. Und dann? Lässt sie den Klienten damit alleine? Oder hofft sie, dass er dann wiederkommt und doch noch eine Verlängerung beantragt?

Egal. Ich habe noch einmal den Müll thematisiert, der mich unter anderem vom Bloggen abgehalten hat. Sie hat in diesem Zusammenhang die Frage gestellt, warum ich damals den Kontakt zu Marie und ihren Eltern abgebrochen habe. Ich weiß nicht, ob sie die Frage gestellt hat, um mir zu signalisieren, dass sie nicht richtig zugehört hat, oder ob sie mich zu einer differenzierten Betrachtungsweise motivieren wollte. Am Ende kam nichts neues dabei heraus.

Ich weiß, dass das damals eine falsche Entscheidung von mir war. Rückblickend betrachtet. In dem Moment war eine Entscheidung nötig. Und in dem Moment fehlte mir das nötige Vertrauen. Nicht mein persönliches Vertrauen in Maries Familie, ich glaube, das war immer da, sondern mein persönliches Verständnis von Vertrauen. Also das, was ich mit „Vertrauen“ verbinde, war durch die extremen Erlebnisse so erschüttert, dass ich nicht mehr in der Lage war, eine auf „Vertrauen“ aufbauende Beziehung zu unterhalten. Oder etwas drastischer formuliert: Wenn du nicht mehr weißt, was Vertrauen wirklich ist, weil es von überall her mit Füßen getreten wird, dann kannst du darauf auch nichts aufbauen.

Wenn es Freunde gibt, mit denen ich mehrfach verreist bin. Bei denen ich übernachtet habe. Mit denen ich nackt in der Sauna war. Die mir ihre intimsten Dinge anvertraut haben. Und umgekehrt. Und die dann plötzlich, von einem Tag auf den anderen, nichts mehr von mir wissen wollen, mir übel nachreden, mich sogar verleumden, sogar behaupten, mich nie gekannt zu haben. Ich suche mir Hilfe bei einer anderen Freundin, die hört mir zu, aber nur, um das hinterher der „Gegenseite“ zu erzählen. Weil ich ihr vertraue und erst zu spät merke, dass sie das Lager gewechselt hat.

Wenn es Menschen gibt, die meinen ehemaligen Freunden haarsträubende Geschichten erzählen. Und wenn meine Freunde das dann glauben. Ohne noch ein einziges Mal mit mir zu sprechen. Ohne noch ein einziges Mal nachzufragen, was davon stimmt. Ohne mir die Chance zu geben, mich zu verteidigen, oder überhaupt erstmal was dazu zu sagen. Die mir plötzlich nicht einmal mehr „Hallo“ sagen. Wenn ich also merke, dass ich mich in gleich mehreren, sogar fast allen engen Freunden komplett getäuscht habe. Weiß ich dann noch, was „Vertrauen“ ist?

Von sieben oder acht ganz engen Freunden haben genau zwei zu mir gehalten. Und sind dafür ganz übel terrorisiert worden. Der Rest hat sich bequem den Menschen angeschlossen, die die Stimmung gemacht haben. Und was für mich das Unverständlichste ist: Wir hatten zuvor sehr intensive Gespräche über Meinungsbildung und Vorverurteilung. Und jedem von ihnen war es wichtig, sich eine differenzierte, gut recherchierte Meinung zu bilden, bevor man über jemanden urteilt.

Inzwischen hat auch Marie, haben auch Maries Eltern verstanden, dass ich nie an ihrer Beziehung zu mir gezweifelt habe, sondern dass ich in dem Moment überhaupt keine Beziehung mehr zulassen konnte. Das hat sich inzwischen wieder normalisiert, was diese drei mir sehr wichtigen Menschen angeht. Neue Freundschaften schließe ich auch, allerdings glaube ich inzwischen, dass die Mehrheit der Menschen anders tickt als ich und ein anderes Verständnis vom gesellschaftlichen Miteinander hat als ich es habe. Und als Marie und ihre Familie es haben.

Das ist kein schönes Ergebnis einer Psychotherapie. Vielleicht kommt bei der nächsten psychotherapeutischen Selbsterfahrung ja wieder etwas anderes heraus. Vielleicht lerne ich zwischenzeitlich auch andere Menschen kennen, die mehr Tiefgang haben als meine ehemaligen „Freunde“. Und deren Fassade mich nicht blenden kann.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert