Toller Einblick

Das letzte Drittel meines Praktischen Jahres verspricht noch einmal
spannend zu werden. Insbesondere beim vorherigen Drittel hatte ich ja eher den Eindruck gewonnen, mal wollte mich mit allen unliebsamen Aufgaben und Patienten, die eine chirurgische Notaufnahme so zu bieten hat, mindestens einmal konfrontiert haben. Umso erfreuter bin ich derzeit, dass das letzte Drittel, das ich verpflichtend in der Inneren Medizin belegen muss, ganz anders ist.

Als ich nach schier endloser Warterei in der Personalabteilung endlich auf der Station ankam, wurde ich gleich mit zur bereits laufenden Chefarzt-Visite geschickt. Damit ich die Station und die Patienten kennenlerne. Macht ja auch Sinn. In der Medizin herrscht allerdings noch immer eine sehr hierarchische Atmosphäre, und so ist die
kleine PJ-lerin in der Regel am weitesten Weg vom Patientenbett, wenn die Horde durch die Zimmer zieht. Mit etwas Glück steht man noch im Zimmer und nicht draußen auf dem Flur. In diesem Fall waren auch noch mindestens zehn Studenten dabei, die was lernen wollten.

Die vierte oder fünfte Patientin war vom Hausarzt eingewiesen worden,
weil er sein Latein beziehungsweise seine ambulanten Möglichkeiten als erschöpft ansah. Genauso erschöpft wie die junge Frau, die aussah wie der Tod auf Latschen. Müde, schwach, antriebslos, fast schon apathisch. Laborwerte wurden vom Hausarzt mitgegeben, allerdings wurde nur der allerkleinste Standard abgefragt, aus dem man natürlich keine eindeutige
Diagnose stellen konnte. Jedoch gaben insbesondere die Hämoglobin- und Hämatokrit-Werte (bei unauffälligen Nierenwerten) schon eine klare Richtung vor.

„Wir nehmen Ihnen jetzt noch einmal Blut ab und werden uns verschiedene zusätzliche Werte angucken“, gab der Chefarzt vor, bevor wir das Zimmer wieder verließen. Auf dem Flur blieb er am Aktenwagen stehen und winkte mich zu sich heran. Gab mir die Hand, deutete auf den Monitor, wo einige weitere Blutwerte der Frau bereits abzulesen waren. „Jetzt möchte ich wissen, ob Sie vor Weihnachten in meiner Vorlesung aufgepasst haben“, sagte er. Er dachte wohl, ich sei eine von den Studentinnen.

„Ich war vor Weihnachten nicht in Ihrer Vorlesung“, antwortete ich. Er fragte, fast enttäuscht: „Warum nicht?“ – „Weil ich mein PJ mache und
vor Weihnachten in der Chirurgie war“, sagte ich und in der letzten Reihe fingen drei Leute an zu lachen. Er antwortete: „Dann müssen Sie es
erst recht wissen. Was fehlt der Frau?“ – „Rote Blutkörperchen.“ – „Richtig. Was fehlt ihr noch?“ – „Epo.“ – Die drei aus der letzten Reihe
lachten schon wieder, bevor der Professor scrollte, nochmal nickte und das Gelächter verstummte. „Das hab ich noch gar nicht gesehen. Sie haben
Recht. Ich meinte eigentlich was anderes, was erstmal sofort ins Auge fällt. Fallen muss.“ – Nicht ohne Grund hatte man wohl bereits zusätzlich das Erythropoetin bestimmen lassen. Ich wollte gerade auf den
Hämatokrit-Wert und auf die Größenverhältnisse zeigen, als aus der letzten Reihe kam: „Die Entzündungswerte sind sehr hoch.“ – „Welche Entzündungswerte?“, fragte der Professor. Die Studentin schüttelte den Kopf. Vermutlich war ihr im letzten Moment aufgefallen, dass nur ein Entzündungswert bestimmt war und dieser sich im normalen Bereich befand.

Lange Rede, kurzer Sinn: Er wollte von mir wissen, was ich tun würde.
Ich sagte: „Da die Nierenwerte in Ordnung zu sein scheinen, erstmal Vitamin B12 und Schilddrüse bestimmen.“ – Er zeigte mit der Spitze seines Kugelschreibers auf mich und sagte: „So machen wir das. Sobald die Werte da sind, kommen Sie zu mir und dann besprechen wir das. Einverstanden?“ – Der Stationsarzt und der Oberarzt nickten betont gelangweilt. Ich lächelte und nickte ebenfalls.

Am Ende war es ein ausgeprägter Vitamin-B12-Mangel. Ob nur durch die streng vegane Ernährung bedingt oder ob es noch zusätzliche Ursachen (Magenschleimhaut-Entzündung, Aufnahmestörung) gab, müssen jetzt andere bestimmen, denn der Chefarzt wollte mich nach unserem Gespräch sofort auf einer anderen Station haben. „Im Stationsalltag der allgemeinen Inneren werden Sie sich langweilen. Sie haben das drauf, das merkt man sofort.“ – Ich wurde rot.

Er lud mich ein, auf eine Station zu kommen, auf der die ganzen „schwierigen“ Fälle behandelt werden. Patienten mit entzündlichen Erkrankungen, bei denen die üblichen entzündungshemmenden Medikamente nicht oder nicht mehr wirken. Hauptsächlich Rheuma und Morbus Crohn (eine chronisch-entzündliche Erkrankung des Verdauungstraktes). Im Rahmen einer Studie werden dort Patienten Antikörper gegeben, die im Labor gezüchtet wurden. Das ist natürlich sehr spannend und vor allem hatte ich es bislang nur mit sehr interessanten Persönlichkeiten zu tun.
Also vom Busfahrer und Müllmann bis hin zu einer Personalchefin bei einer großen Versicherung und einem Bischof. Alle haben eins gemeinsam: Sie wissen über ihre Krankheit bestens Bescheid und haben sich meistens intensiv und auf unterschiedlichsten Ebenen damit auseinandergesetzt. Oftmals auch auf der ethischen. Gespräche mit dem Professor sind so, dass ich davon lerne. Und mich manchmal frage, ob das alles Mediziner sind. Und dann schnell merke, dass sie es nicht sind, denn ihre Kenntnis
umfasst dieses sehr begrenzte Teilgebiet. Aber es ist faszinierend.

Und vor allem kein Hokuspokus. Am bisher Eindrucksvollsten war wohl eine 22jährige mit Morbus Crohn mit acht durch die Bauchdecke verlaufenden Fisteln. Das heißt, da waren zwischen Darm und Außenwelt Verbindungen gewachsen, aus denen dann ständig schmierig-schleimig blutender Darminhalt nach draußen blubberte. Ganz leckere Sache. Ich möchte nicht tauschen. Erst durch diese Antikörpertherapie gelang es, die Entzündung einzudämmen. Und was wirklich verblüfft: Die Fisteln schließen sich. Nicht, weil da einer operiert, sondern der Körper fragt sich irgendwann selbst, warum da Fisteln sind und verschließt die wieder. Vor den Antikörper-Infusionen hat er zugelassen oder durch sein eigenes Immunsystem sogar begünstigt, dass die dort wachsen können. Irre. Ein toller Einblick, aber auf lange Sicht für mich nicht das Richtige.

Man darf natürlich nicht vergessen, dass diese Therapie auch nicht ohne Risiko ist. Es gab weltweit hunderte Todesfälle. Allerdings darf man auch nicht vergessen, wie schwer krank diese Menschen sind und dass sie davor alle anderen Möglichkeiten und Therapien ausgeschöpft haben. Oft ist das ihre letzte Chance, und zusammen mit einer sorgfältigen Erhebung der Krankengeschichte und unter Beachtung der bisherigen Erfahrungen lässt sich das Risiko wohl ganz gut kalkulieren.

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert