Stex 3

Es ist ein Update fällig. Ich weiß. Wenn ich denn mal Zeit hätte. Ich würde so gerne schreiben. Ich hätte so viel, worüber ich schreiben könnte. Es hat sich so viel verändert in den letzten Wochen und es ist so viel geschehen, dass ich eigentlich täglich bloggen könnte. Wie gesagt, wenn ich mehr Zeit hätte.

Zuerst wäre da mein drittes Stex. Stex, nicht Sex, du Ferkel. Also Staatsexamen, Prüfung. Die ganze Aufregung, die ich befürchtet hatte, blieb aus. Ich habe in der Nacht davor geschlafen wie ein Baby, habe mir
am Abend davor nichts mehr angeguckt, nichts mehr nachgeblättert, bin beim Einschlafen nicht nochmal irgendwas im Kopf durchgegangen und musste auch nicht noch fünf Mal Licht anmachen, um irgendwas doch nochmal genauer nachzulesen. Nix. Und dann habe ich an dem Morgen noch ganz ruhig gefrühstückt, sogar online noch in einer Tageszeitung geblättert, bevor ich mich mit optimalem Zeitpuffer auf den Weg gemacht habe.

Und bevor ich richtig nachdenken und emotional aufdrehen konnte, war ich schon dran. Ich musste eine von mir geschriebene Epikrise (also quasi einen Arztbrief) vorlegen zu einer Patientin, die eigentlich an dem Tag entlassen werden sollte, allerdings war sie schon am Vortag nach
Hause geschickt worden, von daher sammelte man den Zettel ein und kommentierte es erstmal nicht weiter. Ich bekam eine neue Patientenakte in Papierform in die Hand gedrückt. „Schauen Sie sich das genau an. Die Dame möchte heute gerne nach Hause entlassen werden und weiß bereits, dass Sie heute Ihre Prüfung mit ihr machen. Sie gucken sich die Akte vorher in Ruhe an. Alle Nachschlagewerke, die Sie hier im Raum finden, dürfen Sie benutzen, allerdings dürfen Sie nichts außer der Akte zur Patientin mitnehmen und Sie kommen auch nicht hierhin zurück. Also wenn Sie noch was nachschlagen müssen, dann jetzt. Wir warten vor dem Patientenzimmer, wenn Sie so weit sind, kommen Sie dorthin und nehmen uns mit hinein. Sie müssen uns nicht vorstellen, die Dame kennt uns aus dem Vorgespräch. Und Ihr Handy würde ich gerne für die nächsten zwei Stunden an mich nehmen, wenn Sie einverstanden sind. Ist das lautlos?“

Ich blätterte die Akte durch. 69 Jahre, weiblich, schlank, körperlich
fit, ist zur Kontrolle ihres implantierten Herzschrittmachers vom Hausarzt in die stationäre Behandlung eingewiesen worden. Ihr war mehrmals schwindelig, dann hat man Blutdruck gemessen, der war zu niedrig und der Puls zu schnell. Bei der Kontrolle des Herzschrittmachers gab es am Gerät allerdings keine Auffälligkeiten und er soll auch richtig eingestellt sein. Es handelt sich um ein bedarfsweise ansprechendes Gerät, das in den letzten Monaten nicht ausgelöst hat. Damit war eigentlich alles gesagt: Wenn die Spezialisten sagen, es liegt nicht am Schrittmacher, dann werde ich mich in einer Prüfung nicht darüber hinwegsetzen müssen.

Sondern bei der Dame ist was anderes los. Ich blätterte weiter. Laborwerte … ach herrje. Prüfungsakte ohne die sonst üblichen Hinweise des Labors. Ein viel zu niedriger Hämoglobinwert und ein Mangel an roten
Blutkörperchen fielen mir sofort auf. Alle anderen Werte, sofern sie auch nur spärlich erhoben wurden, waren eigentlich normal. Ich blätterte
weiter. Ein großes EKG war schon drin. Sah auf den ersten Blick auch normal aus. Dosierungsplan für Medikamente: Nix. Was ja auch selten vorkommt, wenn man mit fast 70 Jahren in einem Krankenhaus weilt. Sollte
ich jetzt noch irgendwas nachschlagen? Oder mich ganz lässig ins Gespräch begeben? Es musste schon richtig blöd laufen, wenn ich nach meinen bisherigen Leistungen jetzt durchfallen wollte.

Drei Herren, mein jetziger Prof, und ich. „Ich wäre dann soweit.“ – „Sind Sie aufgeregt? Dafür gibt es keinen Grund. Ich will, dass Sie bestehen. Geben Sie sich Mühe, aber haben Sie keine Angst. Das ist nicht
nötig. Wir wollen nur schauen, wie Sie arbeiten. Dass Sie das können, wissen wir schon. Wenn Sie etwas nicht wissen, dann fragen Sie mich. Das
ist völlig in Ordnung. Machen Sie nicht den Fehler, dass Sie versuchen,
etwas auf einer Lücke aufzubauen. Da wird alles nur noch schlimmer. Meistens fällt der Groschen bei der Frage und danach läuft es wieder wie
am Schnürchen. Einen Hänger darf jeder mal haben. Alles klar?“

Jetzt war ich aufgeregt. Anklopfen, eintreten. Grüßen, ansprechen, Hände desinfizieren. Die Bettnachbarin bitten, das Zimmer zu verlassen. Mich vorstellen. Fragen, wie die Dame sich heute fühlt. Und sie antwortete: „Bis auf das Frühstück ist alles gut.“ – „Bis auf das Frühstück“, wiederholte ich grinsend. War das abgesprochen? Ich riskierte einen Blick zu meinem Prof. Dessen Blick ging nichtssagend ins
Leere. Die Dame fuhr fort: „Ich möchte nach Hause. Zwei Nächte hier müssten ja eigentlich reichen. Haben Sie meine Hertha wieder richtig eingestellt?“ – „Sie meinen Ihren Schrittmacher?“ – „Ja, ich nenne das Ding immer Hertha, alles andere klingt mir zu ernst. Wissen Sie, wie ich
den bekommen habe?“ – Und dann erzählte sie. Und erzählte. Und hörte nicht mehr auf. Sie überschlug sich fast beim Reden. Dann klingelte ihr Handy in der Schublade und vibrierte dabei. Sie holte das Ding raus, sagte: „Meine Tochter! Moment!“

Es kam nicht der Satz: „Ich ruf gleich zurück“, was ich außer Wegdrücken noch akzeptiert hätte. Sondern sie fing an zu labern. War das
abgestimmt? Wollten die mich testen? Oder war das live? Highlive? So oder so, ich musste ran: „Entschuldigung, können wir das jetzt bitte auf
später verschieben?“ – „Du, ich muss Schluss machen, hier ist gerade Visite. Hab dich lieb! Kussi!“

Und dann war ich wieder dran: „Tschuldigung, aber meine Tochter ruft so selten an. Aber klar. Wo waren wir stehen geblieben?“ – Mein Blick fiel in die geöffnete Schublade. Dort war eine Packung Tabletten drin. Wieso hatte sie Tabletten im Nachtschrank? Im Medikamentenplan stand nix. Unvollständige Prüfungsakte? Passt nicht. Und mehr als den Tagesbedarf gibt es eigentlich sowieso nicht. Ich fragte: „Entschuldigung, was sind das für Tabletten in der Schublade?“ – „Die? Och nichts. Muss Sie nicht interessieren“, sagte sie und schob die Schublade zu. Ich guckte meinen Prof an. Der kam drei Schritte auf mich zu und machte ein ernstes Gesicht. Ich guckte ihn länger an. Er guckte aus dem Fenster. Okay. Meine Patientin. „Ich möchte die jetzt aber schon
mal sehen.“ – Sie schüttelte den Kopf. „Wissen Sie, Frau …, Sie sind hier, weil wir Ihnen helfen sollen, dann müssen wir auch wissen, was Sie
einnehmen. Sie können nicht einfach eine eigene Apotheke in Ihrer Schublade haben.“ – Damit hatte ich sie am Haken: „Apotheke, nun übertreiben Sie. Das sind harmlose Lithium-Tabletten.“ – Der Prüfer seufzte leise. Ich fragte: „Und die nehmen Sie wofür?“ – „Mein Psychiater sagt, ich sei bipolar. Ich bin aber nicht polar. Ich bin vielleicht binär. Also vom Geschlecht. Aber das ist eine andere Sache, gegen die es keine Medikamente gibt.“

Sie redete und redete. Irgendwann fuhr ich ihr über den Mund. „Sie können heute noch nicht nach Hause.“ – „Nicht?“ – „Nein. Mit ihrem Schrittmacher ist und war alles in Ordnung. Wir haben die Ursache für Ihren niedrigen Blutdruck noch nicht gefunden.“ – „Nach zwei Tagen noch nicht gefunden?“ – „Nein, wir erfahren ja sukzessive Neuigkeiten. Ich schlage vor, dass wir bei Ihnen Lithium und Eisen mal bestimmen und auch
mal die Schilddrüse untersuchen. Und ich würde Sie bitten, eine Stuhlprobe abzugeben.“ – „Wofür das denn?“ – „Ich möchte gerne routinemäßig prüfen, ob Sie irgendwo Blut verlieren.“

Der Prüfer sagte: „Das reicht, Frau Socke. Vielen Dank. Wir machen gleich noch eine Nachbesprechung. Auf Wiedersehen, Frau …“ – Wie sich später herausstellte: Die Schilddrüsen-Narbe hatte ich richtig gedeutet,
dazu gab es aber eine Geschichte, die nur ich noch nicht kannte. Das mit dem Lithium in der Schublade war so nicht geplant, deswegen wurde der ganze Kram dann auch abgebrochen. Logisch, dass bei mir wieder so ein Scheiß passiert. Eisen und Eisenspeicher bestimmen war richtig, Blutverlust im Darm routinemäßig war auch gut, eingerissene Mundwinkel hatte ich auch richtig gesehen und eingeordnet, eigentlich wollte man noch auf Wasseransammlungen in den Beinen hinaus, ich hätte die Lunge abhören sollen, aber nach der Lithium-Geschichte lief denen das aus dem Ruder, man hat es abgebrochen und ich könnte behaupten: Ich hätte es alles noch gesehen und gemacht.

Etwa eine halbe Stunde war vergangen. „Kommen wir zum 2. Punkt.“ Man sprach mich tatsächlich auf die Dame an, die kürzlich keine Anaphylaxie,
sondern nur einen entgleisten Diabetes hatte. „Erzählen Sie mir alles, was Sie über Anaphylaxie wissen.“ – Er ließ mich labern. Über die schwere allergische Reaktion, die von einer auffälligen Hautreaktion bis
zum Kreislaufstillstand reichen kann und nach den aktuellen Definitionen neben der deutlich sichtbaren allergischen Reaktion immer eine zweite Komponente hat (ABCD): Atmung, Blutdruck, Chronik (konkrete allergische Vorgeschichte) oder Darm. Er ließ sich erklären, wie man reagiert. Und vor allem wie schnell. Ich erzählte ihm über die Gabe von Adrenalin (alle 5 bis 10 Minuten eine halbe Ampulle in den Muskel, bei Kindern unter 12 die Hälfte, bei Kindern unter 6 ein Viertel). Schnelle Infusion von ganz viel Flüssigkeit (mindestens ein Liter bei Erwachsenen). Serumtryptase bestimmen. Auf Reanimation vorbereitet sein.
Bei stabilem Kreislauf Histaminrezeptoren blocken, Kortisongabe über die Vene in Betracht ziehen.

Er wollte wissen, welche beiden Medikamente in welcher Dosierung die Histaminrezeptoren blocken. Wie hoch ich welches Kortison geben würde. Ob ich bei einer Reanimation das Adrenalin noch erhöhen würde. Ich hatte
einen Lauf. Ohne nachzudenken plapperte ich die Antworten heraus. Leitete korrekt her, warum der Kreislauf zusammenbricht. Und in der Folge, warum man spätestens bei der Reanimation beim anaphylaktischen Schock die Beine hochlegt. Warum man dann Adrenalin über die Vene und nicht mehr über den Muskel gibt. Und musste zu guter Letzt noch rund 20 Minuten erklären, was alles auch wie ein allergischer Schock aussehen kann, aber keiner ist (und wie ich das differenziere).

Anschließend hatten wir noch die Hüftdysplasie (also eine Fehlbildung
der Hüftpfanne) beim Kleinkind, welche Fehlbildungen häufig vorkommen und wie sie therapiert werden, danach wollte der Prüfer von mir ein persönliches Gespräch über sein Kind, bei dem in einem Provokationstest Asthma festgestellt wurde, und zuallerletzt wollten sie mich noch fünf Minuten mit einer Art Scherzfrage auf den Arm nehmen. „Whewellit und Weddellit. Tauchen anders als Wum und Wendelin niemals zusammen auf. Wo findet man sie und was hatte derjenige, bei dem man sie findet, auf jeden Fall zu wenig?“

Ja. Kleines Rätsel, das ich so weitergebe. Nach Wum und Wendelin waren zwei Stunden rum. Ich war nicht schweißgebadet. Sondern irgendwie mittendrin. Die Einzelheiten könnte ich im Protokoll nachlesen, vorab bekam ich gleich zu hören: Die Sache mit dem Lithium war blöd, aber nicht durch mich verschuldet. Die Anaphylaxie war perfekt, Hüftgelenk und Asthma beim Kind waren auch okay und Wum und Wendelin konnte ich auch richtig einordnen. Am Ende bekam ich ein „sehr gut“ und war mal richtig baff, denn damit hatte ich nicht gerechnet. Selbstverständlich dauerte es nicht lange, bis ein Ex-Kommilitone, der gerade so eben bestanden hatte, das Wort „Behindertenbonus“ in den Mund nehmen musste. Nee, ich habe nicht darauf reagiert. War mir einfach zu blöd.

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