Helena

Ich kann nicht die Welt retten. Das weiß ich. Aber vielleicht kann ich sie ein wenig besser machen? Das weiß ich nicht. Ich weiß derzeit wirklich nicht, ob ich Helena einen Gefallen tue, oder ihr einen Bärendienst erweise, wenn ich mich um sie ein wenig kümmere. Helena ist, alten Prinzipien folgend, nicht ihr richtiger Name, und ich habe bisher auch noch nicht über sie geschrieben.

Marie und ich haben Helena im Sommer 2017 an einem Badesee getroffen.
Sie war mit ihren beiden Geschwistern und ihren Eltern dort, um die wenige Sonne zu genießen und im seinerzeit eher kalten Wasser ein paar Runden zu schwimmen. Wobei eigentlich nur Helenas Schwestern schwammen. Helena selbst saß auf einer Bank und las ein Buch, während ihre (jüngeren) Schwestern im Wasser planschten. Erst als Marie und ich mit unseren Rollstühlen auf einen Steg fuhren und an dessen Ende ins Wasser kletterten, wurde sie auf uns aufmerksam. Sie sprach uns aber nicht an, sondern packte ihr Buch weg und setzte sich hinter unsere Rollstühle auf den Steg und beobachtete uns.

Wir schwammen eine ganze Zeit. Als wir zum Steg zurückkehrten, saß Helena noch immer hinter unseren Rollstühlen und beobachtete uns. Ich schätzte ihr Alter auf 10 Jahre. Es ist nicht neu, dass wir für einige Menschen eine Attraktion sind. Wenn Kinder sich an mir festgucken, spreche ich sie irgendwann an. Warum geglotzt werde, ob das spannend sei oder ob das Kind Fragen habe, sind dabei keine guten Ansätze um zu vermitteln, dass Menschen mit Behinderung keine Außerirdischen sind. „Na, alles klar bei dir?“, fragte ich. Helena nickte schüchtern. „Gehst du nicht schwimmen?“, fragte ich weiter. Helena schüttelte den Kopf. „Das Wasser ist sehr erfrischend“, fügte Marie hinzu. Helena sagte leise, schüchtern die Finger verknotend und mit der Hüfte hin und her wackelnd: „Ich kann nicht schwimmen.“

What? Okay. Dass manche Kinder keinen Zugang zum Schwimmunterricht bekommen, soll ja vorkommen. Aber dass Helena nicht wenigstens sagte, sie könne noch nicht schwimmen, fand ich bemerkenswert. Das schien ja gerade so, als hätte sie sich damit abgefunden. Ich erwiderte: „Möchtest du es denn noch lernen?“ – Sie antwortete: „Ich kann es nicht lernen. Ich bin auch behindert.“

Ich dachte spontan an irgendwelche Erkrankungen, bei denen man kurzfristig das Bewusstsein verliert, vielleicht bekam sie Krampfanfälle, die gerade im kalten Wasser provoziert werden könnten. Ich fragte: „Okay?! Was für eine Behinderung hast du denn? Darf ich das wissen?“ – Sie nickte. „Ich habe eine Cerebralparese. Und Diabetes.“ – Die Cerebralparese konnte nur sehr gering ausgeprägt sein, denn sie lief barfuß ohne jedes Hilfsmittel, Armbewegungen und Sprache waren auf den ersten Blick auch nicht auffällig. Vielleicht war der Diabetes so schwierig einzustellen, dass sie bei Anstrengungen gerne mal unterzuckert. Aber deswegen nicht schwimmen zu lernen? – „Okay, Socke, es wird schon einen guten Grund geben, nicht so kritisch sein“, dachte ich mir.

Marie und ich legten uns auf den Rasen, Helena setzte sich wieder auf die Bank, nahm ihr Buch, las aber nicht, sondern schaute verträumt zu uns herüber. Die beiden Geschwister durften sich ein Eis holen, Helena hatte keins. Ich habe nicht mitbekommen, ob sie keins wollte oder ob die Eltern es nicht auf die Reihe bekamen, wie man das mit Diabetes löst. Die Eltern und die beiden jüngeren Geschwister alberten auf einer Decke herum, Helena saß still auf der Bank und beobachtete uns.

Eine Stunde später wollten wir noch einmal ins Wasser. Sobald wir uns vom Rasen in den Rollstuhl setzten, packte Helena ihr Buch weg und wollte uns folgen. Ich blieb stehen. Helena guckte mich an. Ich fragte sie: „Na, willst du jetzt mit ins Wasser?“ – Sie schüttelte den Kopf und schaute ihre Eltern an. Ich merkte, dass sie gerne gesagt hätten, Helena habe eine Behinderung. Aber angesichts unserer Rollstühle trauten sie sich das wohl nicht. Ich weiß es nicht. Die Mutter sagte: „Wenn du ins Wasser möchtest, ziehst du dir Schwimmflügel an.“ – Eigentlich wollten wir schwimmen. Ich schaute Marie an. Marie nickte. Ich sagte zu Helena: „Na komm. Wir planschen eine Runde.“

Im Wasser taute sie völlig auf. Sie konnte wirklich nicht schwimmen. Und ich wollte auch nicht die Schwimmflügel entfernen, was aber sicherlich kein Problem gewesen wäre. Fast jeder Mensch kann auf dem Rücken liegend im Wasser treiben, vor allem mit einer helfenden Hand unter dem Rücken. Sie versuchte etliche Schwimmbewegungen, und eigentlich sah das alles auch ganz gut aus. Ich war mir sicher, sie könnte das Schwimmen erlernen, wenn man ihr das nur zutrauen würde. Sie tobte mit uns im Wasser, hatte sehr schnell überhaupt keine Berührungsängste mehr, holte erst einen Tennisball ins Wasser, den wir uns gegenseitig zuwarfen, später versuchte sie, uns unterzutauchen und klammerte sich immer wieder an uns. Mal hatte ich sie am Rücken kleben, mal umarmte sie mich, bei Marie dasselbe.

Dann begann sie zu erzählen. Dass sie hier Urlaub machen würden. Dass sie nur ein Pflegekind sei und ständig schlechter behandelt werde als die leiblichen Kinder, dass ihr Diabetes ständig als Rechtfertigung für irgendwelche Verbote herhalten müsse. Manchmal würde sie am liebsten alles, was den Diabetes betrifft, einfach in den nächsten Mülleimer werfen. Bevor sie mehr erzählen konnte, rief der (Pflege-) Vater sie aus
dem Wasser. Ich vermute, er hat das Gespräch oder Teile daraus mitgehört. Helena sei kalt, sagte er, sie solle sich abtrocknen, man wolle nach Hause. Marie und ich beachtete er mit keinem Blick. Sie verabschiedete sich und ging davon. Marie und ich unterhielten uns noch eine Weile über Helena, verdrängten aber letztlich unsere vielen Fragen, schließlich würden wir sie wohl nie mehr wiedersehen. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Vor rund sechs Wochen waren Marie und ich erneut an diesem See. An einem Wochenende. Und wen trafen wir? Richtig, Helena. Ein Jahr älter, sehr viel größer geworden. Wir waren noch nicht aus dem Auto ausgestiegen, da kam sie angeflitzt, umarmte mich so heftig, dass ich fast mitsamt dem Rollstuhl umkippte. Marie saß noch im Auto, als sie die Tür öffnete, hüpfte Helena ihr auf den Schoß und umarmte auch sie. „Ich habe so gehofft, euch wieder zu treffen“, sprudelte es aus ihr heraus. „Als zu Weihnachten klar wurde, dass wir wieder hierher in den Urlaub fahren, habe ich mir das ganz fest gewünscht und es ist wirklich in Erfüllung gegangen.“

Ich wusste nicht, ob ich mich geschmeichelt fühlen konnte angesichts der lauten Alarmglocken, die in meinem Kopf bimmelten. Dieses Mal war nur die Mutter mit den drei Kindern am See. Wieder bekamen nur die beiden anderen Kinder ein Eis, wieder durfte Helena nur mit Schwimmflügeln ins Wasser, wieder erzählte sie uns, wie blöd es zu Hause lief. Die Eltern würden ganz klar kommunizieren, dass Helena nicht ihr eigenes Kind sei und die drei Kinder unterschiedlich behandeln. Inzwischen würden auch die beiden leiblichen Kinder Helena systematisch ausgrenzen. „Hast du schonmal mit jemandem darüber gesprochen?“, wollte Marie wissen.

Helena antwortete: „Das Jugendamt sucht seit Monaten für mich eine neue Familie. Frau …, das ist die Frau, die für mich zuständig ist, sagt aber, dass es ganz schwierig ist, eine neue Familie zu bekommen, weil ich schon 12 bin und das ein schwieriges Alter ist. Für eine Jugend-WG bin ich noch zu jung. Ich könnte in eine Betreuungs-Einrichtung, aber da möchte ich auf keinen Fall hin, lieber halte ich meine Pflege-Eltern aus. Die wissen natürlich auch, dass ich weg will, und deshalb kümmern die sich auch nur noch um das Nötigste.“

„Hast du niemanden, den du mal besuchen kannst, so dass du mal ein Wochenende da raus kommst und etwas anderes siehst?“ – Helena schüttelte den Kopf: „Das dürfte ich auch gar nicht. Meine Pflegeeltern wollen das
nicht.“ – Am Ende des Tages gab Marie ihre Handynummer an Helena. Damit sie wen anrufen könne, wenn es ihr schlecht ging. Da Helena kein Handy dabei hatte, schrieb Marie ihr die Nummer auf ein Stück Papier. Ich sprach inzwischen mit der Pflegemutter, fragte sie, ob es nicht möglich wäre, dass Helena schwimmen lernt. So sehr wie sie im Wasser aufblühe. Keine Chance, das Kind sei behindert und eigentlich wolle man mit mir auch nicht reden.

Vor inzwischen drei Wochen ist es mir gelungen, die zuständige Mitarbeiterin des Jugendamtes telefonisch zu erreichen. Sehr lange habe ich mit Marie und auch mit Maries Eltern darüber gesprochen, ob wir diesen Kontakt suchen sollten. Maries Eltern fanden, wir sollten das unbedingt tun. Die Mitarbeiterin war gleich sehr freundlich und meine Befürchtung, sie würde mich gleich mit ihrer Schweigepflicht konfrontieren, war unbegründet. Sie erzählte zwar nichts über Helena, aber ich schilderte ihr meinen Eindruck und bat an, dass Helena gerne für ein Wochenende oder auch mal für eine Woche zu uns kommen könnte, um mal aus der Situation herauszukommen. Je nach Erfolg vielleicht auch mehrmals, vielleicht auch regelmäßig einmal pro Monat.

„Wären Sie denn grundsätzlich bereit, Helena als Pflegekind aufzunehmen? Soll das eine Art Probewohnen werden?“ – „Marie und ich führen keine Beziehung, sind beide voll berufstätig. Für ein dauerhaftes
Pflegeverhältnis sind wir eher nicht die richtige Wahl. Aber vielleicht für einen monatlichen Lichtblick, etwas Positives, mal raus kommen.“

Ich zweifelte einen Moment, ob die Dame sich überhaupt mit solchen Dingen beschäftigen wollte und konnte. Aber sie war sofort sehr angetan.
Meine Befürchtung, die Pflegeeltern könnten dem nicht zustimmen, zerstreute sie: „Das Sorgerecht liegt nicht bei den Pflegeeltern.“ – In der letzten Woche rief mich die Mitarbeiterin zurück. Man habe mit Helena gesprochen und sie würde sehr gerne und am liebsten sofort für ein Wochenende zu uns kommen. In den Schulferien sei das auch kein Problem. Wir müssten jedoch zustimmen, dass sich das örtliche Jugendamt zunächst ein Bild von unseren Lebensverhältnissen macht. Also einen Hausbesuch veranstaltet. Und es müsse sichergestellt sein, dass Helena ihre Medizin bekomme. Das sei etwas kompliziert. Ich sagte: „Wenn Sie nur den Diabetes meinen, das bekomme wir wohl zusammen hin.“ – Ich erwähnte, welchen Beruf ich ausübe.

Der Hausbesuch war heute morgen. Helena darf am Wochenende zu uns. Man habe keine Bedenken und begrüße unsere Idee ausdrücklich. Nur ich weiß derzeit, wie gesagt, wirklich nicht, ob ich Helena einen Gefallen tue, oder ihr einen Bärendienst erweise, wenn ich mich um sie ein wenig kümmere. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ich wünsche mir, dass Marie und ich ihr helfen können. Wir werden sie am Freitagabend mit dem Auto von ihrem Zuhause abholen. Es sind knapp über 100 Kilometer pro Strecke.


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