Unterste Schublade

An Verbesserungen gewöhnt sich der Mensch sehr schnell. Auch Stinkesocken gewöhnen sich sehr schnell an Verbesserungen. Und nehmen sie irgendwann vielleicht sogar als selbstverständlich hin. Zum Beispiel, wenn man zum Autofahren nicht mehr mit einem Schlüssel hantieren muss. Als Rollstuhlfahrerin bin ich mit beiden Händen stets beschäftigt, da ist es eine enorme Erleichterung, wenn ich keinen Schlüssel in die Hand nehmen muss, um ins Auto einzusteigen. Auch wenn mein allererstes Auto nicht mal eine Funk-Fernbedienung hatte, sondern ich noch mit dem Schlüssel im Türschloss herumfummeln musste und mich irgendwann gewundert habe, dass mein Schlüssel auch beim Auto nebenan passt, möchte ich den technischen Fortschritt nicht missen.

Ich gewöhne mich auch daran, dass unsere Gesellschaft mehr und mehr verarbeitet, dass Menschen mit Behinderungen am Leben teilnehmen. Sehr viele im positiven Sinne. Sie nehmen es wahr, schauen vielleicht mal, fragen mitunter, sind unbeholfen … alles kein Problem. Okay, wenn ich am
selben Tag zum zwanzigsten Mal gefragt werde, ob ich Hilfe brauche, kann es nerven, aber immerhin fasst mich inzwischen fast niemand mehr einfach so an. Das war vor Jahren noch anders.

Manche Menschen haben aber bekanntlich große Probleme. Zu denen rechne ich auch einen jungen Mann, den ich gestern beim Einkaufen beobachtet habe. Normalerweise blende ich wegen der nach wie vor vorhandenen Gafferei sehr viel um mich herum aus. Manchmal bekomme ich in einer Fußgängerzone gar nicht mit, dass jemand an mir vorbeiläuft, den ich kenne. Wenn ich jemanden beobachte, hat das meistens einen sehr guten Grund. In diesem Fall war es ein sehr schlechter: Der Mann erlaubte sich einen Spaß damit, Einkaufswagen, die Menschen am Rand des Gangs geparkt hatten, ganz subtil in die Gangmitte zu ziehen, ebenso Rollcontainer und einen Pappkarton. Im ersten Moment dachte ich, er erlaubt sich einen Scherz auf Kosten eines Bekannten, der mit ihm einkauft und beim Suchen erstmal aufräumen muss.

Ein eher dämlicher Scherz, weil alle anderen Leute ja auch betroffen sind. Mein Lieblings-Scherz beim Einkaufen ist es, irgendwelche Waren, die man auf keinen Fall haben möchte, unbemerkt im gemeinsamen Einkaufswagen zu platzieren. Das funktioniert natürlich nur einmal im Jahr, aber es funktioniert. Kondome, weiße Schlüpfer in Größe 62, billigsten Schnaps in der Literflasche, eine Fünf-Kilo-Box Gummitiere, zwei Dosen Bier der Hausmarke, Inkontinenzhöschen, Fertiggerichte aus der Dose oder einen 12er Karton Scheuermilch. Zuletzt habe ich Maries Mama geprankt und, während sie an der Kühltheke war, vier Zweiliter-Pakete billigsten Wein in den Wagen gestellt. Und dann ganz leidenschaftlich nach den richtigen Tampons gesucht. In den ersten zehn Sekunden war sie sich nicht sicher, ob sie den richtigen Wagen erwischt hat, dann fragte sie ihren Mann: „Brauchst du günstiges Frostschutzmittel oder warum hast du diese Sterbehilfe hier reingestellt?“ – Ohne eine Miene zu verziehen, nahm er die vier Packungen und stellte sie in den Wagen, der herrenlos direkt daneben stand, und sagte: „Der hat sich im Wagen geirrt.“

Jetzt musste ich nur noch hoffen, dass dieser Mensch nicht vor uns an
der Kasse steht und dann erstmal der Marktleiter mit dem Stornoschlüssel aus dem Lager gerufen werden musste. Die ältere Dame, zu
der der Wagen gehörte, runzelte eine Zeitlang die Stirn, ich hätte zu gerne ihre Gedanken gelesen. Dann packte sie den Wein zurück in unseren Wagen. Ich konnte den Drang, lachen zu müssen, kaum noch unterdrücken. Die Dame ging weiter, Maries Mutter kam zurück und sah den Wein schon wieder in ihrem Wagen liegen. Sie murmelte etwas mit „volltrunken“, bevor sie den Wein wieder in das Regal zurückstellte, wo ich ihn hergeholt hatte.

Die gestrige Aktion des jungen Mannes richtete sich scheinbar gegen eine junge Frau, die hinter ihm lief und einen weißen Taststock in der Hand hielt. Sie musste sich ständig neu orientieren und das ganze Gerümpel zur Seite schieben, das der Typ vor ihr in den Gang geräumt hatte. Ich wollte nur noch herausfinden, ob die beiden vielleicht zusammen gehörten. Eine Neckerei? Ein Test, eine Prüfung? Aber danach sah es nicht aus. Bevor ich mich einmischen konnte, und ich hätte mich eingemischt, sprach ihn ein Mitarbeiter an. Ich konnte nicht hören, was er sagte, er redete jedenfalls auf den Typen ein, während er die Unordnung in seinem Laden wieder beseitigte. Für mich sah es so aus, als
hätte der Spinner das direkt auf die offensichtlich sehbehinderte junge
Frau abgesehen. Würde ich ihn damit konfrontieren, würde er vermutlich behaupten, dass er das nicht gesehen hätte.

Unsere Wege trennten sich. An der Kasse stand die junge Frau mit dem weißen Taststock plötzlich wieder vor mir. Von dem blöden Typen, der die
Einkaufswagen in den Weg geräumt hatte, war nichts mehr zu sehen, dafür
sprach sie jetzt die Kassiererin an: „Hallo, ich sehe Sie oft im Bus.“ –
Häh? Soll sie jetzt antworten: ‚Fein, ich Sie nicht.‘ Oder vielleicht: ‚Ich fahre lieber Bus, weil ich mein Auto immer überall gegen lenke.‘ – Nein, sie antwortete: „Oh ja, ich fahre oft mit dem Bus Nummer …“

Die junge Frau packte ihren Einkauf in ihren Rucksack und wollte mit Karte zahlen. Das ging alles ohne Probleme, und wenn ich nicht vorher ihren weißen Stock gesehen hätte, hätte ich von hinten nicht bemerkt, dass sie eine Sehbehinderung hat. Als sie alles im Rucksack hatte, faltete sie ihren Stock wieder auseinander und ging davon. Ich guckte die Kassiererin an, die glotzte dieser jungen Frau gefühlt endlos hinterher, wie sie zielstrebig direkt auf die Ausgangstür zuging, dann aber stehen blieb und einer Frau mit Kinderwagen auswich, die ihr entgegen kam.

Ich war kurz davor, die Kassiererin zu bitten, weiterzuarbeiten, da drehte sie sich zu mir um und murmelte: „Die ist mir schon immer suspekt
gewesen. Haben Sie das gesehen? Sie ist der Frau ausgewichen, bevor sie
Kontakt hatten. Bei dem Krach hier kann sie das nicht gehört haben, sondern nur gesehen.“

What. The. Ich musste mich echt zusammenreißen. Ich antwortete: „Es ist ja nicht gesagt, dass sie gar nichts mehr sieht.“ – „Und warum hat sie dann einen Blindenstock?“ – „Ich vermute, ihre Sehfähigkeit reicht nicht aus, um den Weg und alle Hindernisse rechtzeitig und zuverlässig zu erkennen. Und sie möchte ihre Umwelt sensibilisieren, dass sie nicht alles sieht.“ – „Wenn Sie mich fragen, ist das eine Betrügerin.“ – Ich holte tief Luft. Lohnte es sich? Ja. Ich antwortete: „Ich frage Sie aber
nicht, und was Sie da behaupten, ist ungezogen, verachtend und respektlos. Sie sollten sich schämen.“ – „Was wissen Sie denn? Sie glauben gar nicht, was wir hier tagtäglich alles erleben.“ – „Nee, glaube ich Ihnen auch nicht. Wenn Sie jetzt vielleicht mal voran kommen könnten?!“

So eine blöde Schrippe. Ich hatte keinen Bock, mich noch über sie zu beschweren, dort rumzupetzen und in der Zwischenzeit wird mein Einkauf warm. Angesichts der Tatsache, dass viele Menschen inzwischen aufgeschlossener gegenüber Menschen mit Einschränkungen geworden sind, schmerzt so ein Vorfall gleich wieder doppelt. Diese Vorverurteilung, diese unberechtigte Kritik von Menschen, die die Situation überhaupt nicht beurteilen können, kotzt mich an. Ich muss es wirklich so deutlich
sagen: Es kotzt mich an.

Das sind die gleichen Menschen, die beim Rollstuhlfahrer behaupten, er würde zu Unrecht Sozialleistungen kassieren, denn er habe gerade seinen Fuß bewegt. Ich kann nicht oft genug erwähnen, wie viele Menschen
mit Behinderung arbeiten (möchten) und wie viele Rollstuhlfahrer ich kenne, die laufen können. Einige sogar so gut, dass man auf den ersten Blick nicht vermuten würde, dass sie einen Rollstuhl zu Hause haben. Und
morgen vielleicht mit dem unterwegs sind, weil sie ihr Tagespensum nicht anders schaffen. Es steht niemandem zu, die Entscheidung, wann jemand ein Hilfsmittel einsetzt und wann nicht, zu kritisieren. Schon gar nicht vor Dritten in Abwesenheit. Das war und ist wirklich unterste Schublade.

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