Seepferd und Abtreibung

Nach täglichem Training hat Helena heute ihr Seepferdchen geschafft. Ja, sie ist eigentlich viel zu alt dafür, aber so sehr, wie sie sich darüber gefreut hat, war es enorm wichtig, dass sie das nachholt. Ein Sprung vom Beckenrand, eine Bahn in Brustlage schwimmen und einmal aus dem schultertiefen Wasser einen Gegenstand vom Boden hochholen. Eigentlich sollte sie erstmal nur springen, aber statt an den
nächsten Beckenrand zu schwimmen, schwamm sie spontan einmal quer durch
das Becken.

Unsere erste kleine Meinungsverschiedenheit haben wir auch hinter uns. Ich bekam vom Schulweg eine Kurznachricht von ihr, ob ich damit einverstanden wäre, wenn sie zum Mittagessen zu einer Freundin mitgeht. So spontan war ich damit nicht einverstanden. Ich kenne die Freundin nicht, ich kenne die Familie nicht, und bei uns war Mittagessen vorbereitet. Helena kam nach Hause, hat also auf das „Nein“ gehört, was ich sehr wichtig und sehr positiv fand. Allerdings war die Haustür noch nicht ganz zu, da bekam ich die Frage gestellt: „Warum darf ich nicht bei meiner Freundin essen, wenn sie mich einlädt?“

„Das erkläre ich dir gerne. Nach dem Essen.“ – „Du hast gesagt, ein Kind darf Widerworte geben, wenn es sich unwohl fühlt. Ich fühle mich unwohl. Also: Ich möchte es jetzt wissen.“ – „Du wirst dich bis nach dem
Essen gedulden müssen.“ – „Menno!“, sagte sie und stampfte mit dem Fuß auf. Guckte mich eine Minute mit bösem Blick an, merkte dann, dass das nichts bringt und wechselte das Thema: Eine Mitschülerin habe sich über sie lustig gemacht. Es ging irgendwie um Vornamen, die Lehrerin sei auf die geniale Idee gekommen, dass jedes Kind auf Pappkarten unterschiedlicher Farben die Vornamen von Geschwistern, Eltern und Großeltern schreibt. Jede Farbe stand für eine Generation. Am Ende wurden alle Karten eingesammelt und nach Generationen sortiert aufgehängt. Helena hat keine einzige Karte beschriftet und als die Mitschülerin sie vor allen anderen Kindern nach dem Grund fragte, gesagt, dass sie nicht wisse, wie ihre Eltern heißen, weil sie ein Klappenkind sei. Was ich eine sehr starke Reaktion fand.

Als auch das erklärt war, habe eine Mitschülerin zu ihr gesagt: „Das war bestimmt wegen der Behinderung. Haben deine Eltern das vorher nicht gewusst? Sonst hätten sie doch eine Abtreibung machen können.“ – Wie einfühlsam! Damit hatte ich die nächste Stunde eine Zwölfjährige neben mir sitzen, die mit mir ausdiskutierte, warum man Menschen mit Behinderung (nicht) tötet. Und dass sie gerne lebt und nicht hätte abgetrieben werden wollen.

Helena sagte, sie habe zu der Mitschülerin nur noch „du Arsch“ gesagt
und das täte ihr auch nicht leid. Sie habe das sagen müssen, sonst wäre
sie innerlich geplatzt. Ich habe inzwischen mit der Lehrerin telefoniert. Sie habe das nicht mitbekommen. Was ich merkwürdig finde. Aber anscheinend wird da viel im Hintergrund gequatscht, wenn sie solche
Unterhaltungen mitten in der Stunde nicht mitbekommt. Ich bin ziemlich sauer, dass man, mit dem Wissen, so ein Kind in der Klasse zu haben, solche Aufgabe gibt und sie dann noch so wenig begleitet. Immerhin hat sie mir nun versichert, mit den Eltern der betroffenen Schülerin zu sprechen. Bleibt zu hoffen, dass die nicht auch der Meinung sind, es sei
ein Fehler, ein behindertes Kind nicht abzutreiben…

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