Ich bin derzeit Fan von ‚in medias res‘, und so schreibe ich nicht von einem stressigen Frühdienst mit mal wieder unterbesetzter Schicht, kranken Kindern und Jugendlichen und einer aus Kapazitätsgründen irgendwie kaum stattfindenden Facharztausbildung, sondern von einem 16 Jahre alten Jungen, der in Bauchlage vor mir auf dem Tisch liegt und am oberen Rücken einen 14 Zentimeter langen Schnitt hat, den er sich angeblich beim Herumtollen in der Küche selbst zugezogen haben soll, nachdem er nackt (!) auf das zuvor hinabgeworfene Messer gefallen sei. Ich muss keine Rechtsmedizinerin sein, um zu wissen, dass das so nicht stimmen kann. Wenn jemand auf ein am Boden liegendes Messer fällt, zieht
er sich keinen 14 Zentimeter langen, geraden, völlig oberflächlichen Cut zu.
Socke hat ja dazugelernt und informiert ihre Oberärztin. Die ist extrem genervt. Zum Vater kann der Junge keine Angaben machen, die Mutter sei arbeiten. Die Wunde habe seine Freundin vorsorglich verbunden
und ihn hierher geschickt. Sie mache eine Ausbildung in der Pflege. Anweisung: Wundversorgung, Tetanusschutz prüfen, Bericht schreiben, entlassen. Dritte werden nicht informiert. Er sei alleine gekommen und könne auch alleine wieder gehen. Es sei zwar ungewöhnlich, aber nicht maßnahmebedürftig. Vielleicht hat er sich geritzt oder hat irgendwas ausprobiert. Super. Es fällt mir in solchen Fällen wirklich schwer, nach
Anweisung zu arbeiten. Aber ich werde die Anweisung zumindest in der Akte dokumentieren. Und selbst dabei muss man ja vorsichtig sein.
Während ich beginne, die Wunde zu versorgen, frage ich den Jungen nochmal: „Was war denn das für ein Messer, das dich da geschnitten hat?“
– „Ich möchte kein Aids bekommen.“ – „Wieso solltest du Aids bekommen?“
– „Das möchte ich nicht, klaro?“ – „Klaro. Und was war das jetzt für ein Messer?“ – „Geht es bald mal weiter? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit für den Scheiß hier.“ – „Warum bist du so aggressiv? Wir helfen dir
hier nur, aber das dauert nunmal seine Zeit.“ – „Ich möchte kein Aids bekommen.“ – „Von mir bekommst du es nicht.“ – „Sind Sie bald fertig?“ –
„Jetzt entspann dich mal, das Tempo geb ich vor. Klar?“
Klar. Was hatte der Junge mit seinem Aids? Der war doch nicht nur aufgeregt. Während ich die Wunde versorgte, war er extrem unruhig und führte Selbstgespräche. „Das geht so nicht, alles klar, das geht so nicht, mach weiter, du bist nicht gemeint, das sind meine Schuhe, wo ist
der Hinweis, ich bin nicht im Bild.“
Als ich mit der Wunde gerade fertig war, musste ich sofort zur nächsten Patientin. Also musste der junge Mann noch weiter auf seinen Brief warten. Und ich wollte, dass sich meine Oberärztin den jungen Mann
noch einmal anschaute, insbesondere wegen der auffälligen psychischen Verfassung. Als ich eine Viertelstunde später wieder in sein Behandlungszimmer rollte, – Vorsicht: Eklig! – wehte mir Gestank entgegen. Der Grund war schnell ausgemacht: Jemand hatte eine Wurst auf den Fußboden gelegt. Und nein: Sie stammte nicht von einem Hund.
Dass bei jemandem was in die Hose geht, kommt hin und wieder mal vor.
Dass sich jemand übergibt, auch. Aber sowas hatte ich in den letzten sechs Jahren so noch nicht. Ich rollte sofort wieder hinaus und holte eine Pflegekraft hinzu. Sprach den Patienten an: „Was ist das hier auf der Erde?“ – „Das war der Nachbar über mir. Der scheißt immer in den Topf und dann spült er die ganze Nudelsuppe zu mir runter.“ – „Ich frag dich jetzt mal was Persönliches: Warst du schonmal in der KJP?“
Ganz bewusst habe ich nicht Kinder- und Jugendpsychiatrie gesagt. Ich
wollte natürlich wissen, ob er die Antwort gibt, bevor er fragt, was das ist. Er antwortete: „Ich war in [Stadt, in der ein großes psychiatrisches Krankenhaus steht].“ – Aha. Also gibt es eine einschlägige Vorgeschichte. Ich möchte, dass sich ein psychiatrischer Kollege den jungen Mann anschaut, um eine akute Psychose auszuschließen.
Und ich werde ihn nicht alleine entlassen. Egal, welche Anweisung ich bekomme.
Am Ende stellte sich heraus: Der junge Mann lebt mir seiner Mutter zusammen, die angerufen wurde und sofort in die Klinik kam. Sie war völlig entsetzt und überfordert. Arbeitet halbtags, dachte, er wäre in der Schule. Eine Freundin habe er eigentlich gar nicht. Glaubt zumindest
die Mutter. Selbst kann er sich aber nicht so verbunden haben. Lauter Ungereimtheiten. Die Mutter hatte mitbekommen, dass er „mal wieder etwas
schräg drauf“ ist, er hat ihr aber versprochen, seine Medikamente zu nehmen. So schlimm wie heute sei es gestern noch nicht gewesen. Am Ende stimmten alle zu, dass er sich stationär in der Klinik aufnehmen lässt, in der er zuletzt bereits wegen seiner Psychose behandelt wurde. Und was
sagt meine Oberärztin? Nichts. Also wohl mal wieder alles richtig gemacht.