Noch aufregender hätte es nicht mehr sein können. Helena war am Ende so nervös, dass sie ohne Jacke und ohne Schuhe losgehen wollte. Gestern abend fragte sie immer wieder, was passieren würde, wenn sich das Jugendamt gegen unser weiteres Zusammenleben entscheidet. Und was sie am besten sagen soll, und was lieber nicht. Und ob das nicht alles schnell vorbei gehen könnte. Und ob ich nicht doch schon etwas wissen würde. Oder Marie. Wann wir losfahren würden, ob das nicht zu knapp sei, weil es ja einen Stau geben könnte. Und ob ich eine Ahnung davon hätte, was alles gefragt werden würde. Und ob es sein könnte, dass sie schon morgen abend in irgendeiner Einrichtung sei, in die sie gar nicht wolle.
Normalerweise geht Helena um 20.45 Uhr ins Bett, Licht aus um 21.00 Uhr. Normalerweise bringen entweder Marie oder ich sie ins Bett, decken sie gut zu, sprechen noch einen Moment über den Tag, streicheln ihr noch einen Moment den Kopf – und oft schläft sie dabei schon ein. Auch wenn sie schon 12 Jahre alt ist, ein Einschlaf-Ritual ist ihr enorm wichtig. Und ihr ist wichtig, dass alles in Frieden und in Ordnung ist. Gestern war sie nicht zur Ruhe zu bekommen. Um 21.30 Uhr habe ich sie alleine gelassen, um 21.45 Uhr kam sie weinend wieder zu uns. Dann saß sie fast eine Stunde wie ein Affenbaby auf Maries Schoß, ihren Kopf zwischen Maries Schulter und der Sofalehne, bis sie endlich so ruhig war, dass sie von sich aus wieder ins Bett ging. Als ich 30 Minuten später noch einmal um die Ecke guckte, war sie immer noch wach und hatte im Dunkeln ein Hörbuch leise laufen. Um 23.30 Uhr hat Marie ihr dann noch einen warmen Tee gekocht, als sie den getrunken hatte, schlief sie ein.
Heute morgen hat sie keinen Bissen gegessen. Auch wenn wir geahnt haben, in welche Richtung das gehen wird, weil man immer wieder bis ins letzte Detail alles abgeklopft und nachgefragt hat (was man nicht machen müsste, wenn man an anderen Lösungen arbeitet), sicher waren wir uns bis zum Schluss nicht, wohin die Reise gehen würde. Als wir dann endlich vor der Zimmertür der Mitarbeiterin standen, bei der wir einen Termin hatten, wurden wir gebeten, in einen anderen Raum am anderen Ende des Gebäudes zu wechseln. Und dann hieß es, man würde Helena von uns trennen und sowohl mit ihr als auch mit uns zunächst getrennt sprechen wollen. Das war der Moment, wo mir mulmig wurde. Und Marie auch, ich sah es an ihrem Blick.
Helena erzählte hinterher, dass die Frau, eine Psychologin, sich mit ihr unterhalten hat und alles mögliche über ihre derzeitige Situation bei uns wissen wollte. Wann sie aufstehen muss, wie es in der Schule so läuft, ob Maries Mutter nett ist, wovor sie Angst hat, ob sie Zukunftspläne hat, ob wir uns schonmal gestritten haben, welche Hobbies sie derzeit hat, wann Marie und wann ich nicht gestört werden möchten, ob sie mit mir oder mit Marie mehr kuschelt, wie oft es ihr Lieblingsessen gibt und welche Aufgaben sie im Haushalt hat, wieviel Taschengeld sie bekommt und wovon sie nachts träumt, wer ihr die Fußnägel schneidet und ob sie ihre Schulhelfte vorzeigen muss. Und etliche andere Dinge, die ich schon wieder verdrängt habe.
Und wir? Wir durften der pädagogischen Sachbearbeiterin etliche Nachfragen beantworten zu dem „Konzept“, das wir eingereicht hatten. Nachfragen, die sich eigentlich anhand des Textes beantworten lassen, aber auch Nachfragen, die wir -teilweise ganz bewusst- nicht beleuchtet hatten. Nach etwa einer halben Stunde kam die Chefin der Sachbearbeiterin dazu, dann kam Helena mit der Psychologin wieder, dann noch ihr Vormund, am Ende saßen wir zu siebt an einem runden Tisch. Und dann ließ man endlich die Katze aus dem Sack.
Es ist so, wie Maries Mutter schon prophezeit hatte: Sie können nicht mehr zurück. Und wollten das hoffentlich auch nicht. Nicht zuletzt wegen der Schule. Die Psychologin betonte drei Mal, dass sie sehr unter Zeitdruck stünde und gerne zuerst etwas dazu sagen und dann zum nächsten Termin möchte, am Ende gab es von ihr dann nur ein: „Alles wie vorab besprochen, ich unterschreibe das später, meinerseits gibt es keine Bedenken und eine eindeutige Empfehlung.“ – Da wussten Marie und ich schon, wie der Hase laufen wird, Helena begriff es noch nicht. Sie wurde noch einmal gefragt: „Möchtest du weiterhin dort leben, wo du jetzt bist, oder sollen wir uns um eine andere Möglichkeit für dich kümmern?“ – Ihre Antwort: „Bitte keine andere Möglichkeit.“ – Was natürlich sofort eine Nachfrage auslöste: „Also möchtest du da bleiben, wo du jetzt bist?“ – „Wenn ich das entscheiden darf, dann möchte ich unbedingt da bleiben. Ich kann mir kein besseres Zuhause vorstellen. Ich bin so glücklich dort und ich wäre sehr traurig, wenn ich von Jule und Marie weg muss. Muss ich das?“
Die Mitarbeiterin guckte mich an. Ich sagte: „Von uns aus nicht. Wir freuen uns, wenn sie bei uns bleibt.“
Dann sagte sie: „Von uns aus auch nicht.“
Helena guckte Marie und mich abwechselnd mit großen Augen an. So langsam realisierte sie, was die Antwort bedeutet. Plötzlich fing sie zu weinen an. Die Mitarbeiterin bekam das zuerst nicht mit, erst als die Psychologin sie anguckte und mit dem Kopf in Helenas Richtung nickte, unterbrach sie ihren Satz und sagte: „Ach Mensch. Alles sehr bewegend.“ – Helena antwortete: „Nee, ihr entscheidet hier gerade über meine Zukunft und die ist mir wichtig. Da muss ich auch mal drei Tränen rauslassen dürfen, sonst platz ich hier gleich.“ – Ich hätte am liebsten gleich mitgeheult. Aber ich habe ja gelernt, mich zusammenzureißen. Helena trocknete ihre Tränen mit dem Ärmel. Ich schob ihr ein Paket Papiertaschentücher über den Tisch.
Das Jugendamt und der Vormund (und auch das Familiengericht, wie ich später erfahren habe) haben zugestimmt, dass Helena weiterhin bei uns leben darf. Die Veranstaltung soll auf Dauer angelegt werden und wird zunächst bis zum 31.12.2020, also für zwei Jahre, so entschieden. Im Sommer 2020 will man entscheiden, wie es danach weitergeht. Bis dahin soll es eine enge Zusammenarbeit mit dem örtlichen Jugendamt geben, das ständig über Helenas Entwicklung informiert werden soll und bei Fragen beraten kann.
Als erste technische Schritte wurden vereinbart: Helena soll „unverzüglich einer ambulanten Psychotherapie zugeführt werden“, sie soll Physiotherapie bekommen, soll in kinderneurologische Behandlung gegeben und mit den nötigen Hilfsmitteln versorgt werden. Es soll auch ein Behindertenausweis beantragt werden. Und so weiter – im Grunde alles das, was wir auch in unseren Texten ausgeführt haben. Man hat uns also quasi aus der Hand gefressen, was diese und weitere Ideen angeht.
Als wir nach dem Termin endlich im Aufzug standen und die Tür hinter uns zufiel, schnappte sich Helena erst meinen Kopf, nahm ihn in beide Hände und drehte ihn so, dass sie mir nacheinander links und rechts einen Kuss auf die Wange und anschließend einen auf die Stirn geben konnte. Anschließend machte sie bei Marie dasselbe und fragte dann kiebig: „Seid ihr sicher? Ich meine, ihr wisst schon, dass ich ab morgen unausstehlich sein werde?“ – „Wir auch, Helena. Kuscheln ist vorbei, ab morgen beginnt der Tag mit Liegestützen, Ordnung und Disziplin.“ – „Echt?“ – „Das heißt: Jawohl, Frau Socke.“ – „Das fehlte noch.“
Die gute Nachricht: Das Jugendamt zahlt künftig monatlich einen Grundbetrag von 579 Euro für den Kindes-Unterhalt sowie 360 Euro für den Pflege- und Erziehungs-Aufwand. Dieser Betrag ist erhöht wegen ihrer Behinderung und dem damit verbundenen Mehraufwand. Dazu kommen noch 194 Euro Kindergeld, so dass uns im Monat für Helena 1.133 Euro zur Verfügung stehen. Das ist okay, finde ich. Jeweils 42 Euro monatlich werden in Maries und meine Rentenkasse eingezahlt.
Die schlechte Nachricht: Die Zeit bis gestern gilt als „Besuch“, da kommt das Jugendamt für keinerlei Kosten auf. Auch nicht für unsere Auslagen, die wir bis heute hatten (insbesondere Klamotten). Allerdings, und ab hier wird es wieder gut, wird für die Erstausstattung mit Möbeln und Bekleidung eine Beihilfe in Höhe von insgesamt maximal 800 Euro gewährt. Wir können also nochmal einkaufen und künftige Rechnungen bis zum Höchstbetrag einreichen.
Normalerweise würde auch noch ein Weihnachtsgeld von rund 42 Euro gezahlt werden. Allerdings wird das am 5. Dezember ausgezahlt, und da wir erst ab 6. Dezember Leistungen bekommen, fällt das für dieses Jahr ebenfalls flach. Ich schätze, dass wir uns noch mit vielen bürokratischen Besonderheiten beschäftigen werden müssen. Die gefühlt zwei Dutzend Merkblätter und Bescheide habe ich noch gar nicht alle durchgelesen.
Als wir wieder im Auto saßen, wollte Helena als erstes Maries Mutter anrufen. Die Praxismitarbeiterin stellte sie in die Warteschleife und kurz danach war sie direkt dran: „Weißt du, was dabei rausgekommen ist? Ich darf bleiben. Wir sehen uns also demnächst noch öfter.“ – Marie erzählte mir später, dass ihr Papa Marie gestern abend noch angerufen und ihr alles Gute gewünscht hat. Er drücke die Daumen – offenbar hat es etwas genützt.
Wir müssen nun erstmal alles ordnen. Auch wenn ich nie Angst hatte, dass es schief gehen könnte, ich hatte bis zuletzt Zweifel, ob das klappen wird. So komisch es klingt, irgendwie habe ich das verdrängt. Umso erleichterter bin ich, dass wir die Ungewissheit hinter uns lassen konnten. Und nun endgültig vor einer Aufgabe und vor einer Herausforderung stehen, auf die ich mich sehr freue.