Stemm-Eisen und many reasons

Es ist kurz nach halb sechs am Abend. Eine gute halbe Stunde dauert
mein Dienst noch, bevor ich endlich nach Hause darf. Personalnot zwingt
die Klinik nicht nur zu immer individuelleren Arbeitszeiten, sondern auch noch zu immer individuelleren Einsatzbereichen. „Können Sie mal bitte geschwind in die chirurgische Notaufnahme, dort unterstützen, man erwartet in den nächsten zehn Minuten einen Jugendlichen mit Schnittwunde an der Stirn? Die Kollegen sind alle beschäftigt.“

Na sicher. Ich muss durch das halbe Gebäude, weil nur vorne ein barrierefreier Ausgang ist. Die Notaufnahme liegt aber hinter dem Gebäude. Ich muss über einen matschigen Sandweg, Wind peitscht mir eiskalten Regen in völliger Dunkelheit ins Gesicht. Drüben ins Gebäude, die Greifreifen vom Rollstuhl sind so glitschig, dass ich aufpassen muss, nicht gegen die geschlossene Aufzugstür zu rutschen. In der Notaufnahme angekommen, muss ich mich erstmal wieder einsatzfähig machen. Ich tausche mein nasses Hemd gegen ein trockenes, trockene mein Gesicht, wasche und desinfiziere mir die Hände und Unterarme. Draußen auf dem Flur ist Remmidemmi. Ein 17 Jahre alter junger Mann wird auf einer Liege durch den Gang gerollt, ist volltrunken, hat eingepullert, hat eine blutdurchtränkte Kompresse an der Stirn und pöbelt herum.

Ob er sich geprügelt hat oder ob er nur mit dem Kopf irgendwo aufgeschlagen ist, ist nicht festzustellen. Er soll in einem Jugendclub mittig auf einem Billardtisch gelegen und geschlafen haben. „Wissen Sie,
wo Sie hier sind? Sie sind im Krankenhaus. Sie sind verletzt am Kopf. Soll ich mir das mal angucken?“ – „Nö, ich will schlafen“, lallt er. Ich
antworte: „Es wäre besser, wenn ich das versorge, nicht dass Ihr Hirn rausläuft. Außerdem bluten Sie am Oberschenkel. Ihre Hose ist voller Blut. Haben Sie eingepullert? Die Kollegin zieht Ihnen mal die nasse Hose aus, okay?“ – „Alles schon raus.“

Ja fein. Während die Kollegin ihm die nasse und blutverschmierte Hose
auszieht, fällt ein Stemm-Eisen aus seiner Unterhose auf den Fußboden. „Müssen Sie noch was abhobeln?“, frage ich ihn. Er antwortet: „Ich will renovieren.“ – Die Kollegin aus der Pflege legt das Ding neben ihm auf den Tisch, ich packe es bei nächster Gelegenheit erstmal aus seiner Reichweite. Nicht, dass ich da mit Nadel und Faden hantiere und er mir damit eine neue Frisur verpasst. Nachdem ich seine Wunden gesäubert und versorgt habe und mir sicher bin, dass das Hirn nichts außer Alkohol abbekommen hat, darf er seinen Rausch ausschlafen.

Als ich endlich zu Hause durch die Tür komme, empfängt mich Helena mit drei Briefen. Orthesen genehmigt wie angefragt. Rollstuhl genehmigt wie angefragt. Termin mit dem Medizinischen Dienst wegen Pflegebedürftigkeit in der Woche vor Weihnachten. Sind die immer so schnell? Helena grinst, wechselt aber sofort das Thema: „Marie und ich haben uns vorhin gegenseitig abgefragt. Sie meine Vokabeln, ich ihre komischen Medizin-Sachen. Kannst du die 12 Hirnnerven auswendig?“ – „Na sicher.“ – „Zähl mal auf!“, verlangt sie von mir. – „Wofür willst du die
hören?“ – „Mach mal bitte.“ – „Okay: Nervus olfactorius, opticus, oculomotorius, trochlearis, trigeminus, abducens, facialis, vestibulocochlearis, glossopharyngeus, vagus, accessorius und hypoglossus.“ – „Falsch.“ – „Okay. Und wie ist es richtig?“ – „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf.“ – „Du bist doof.“ – Helena lacht sich kaputt. Und ich habe mir solche Mühe
gegeben.

Es ist halb zwei Uhr in der Nacht, als plötzlich jemand an meine Schlafzimmertür klopft. Ganz leise. Und dann reinkommt. Bevor ich richtig wach werde und Licht anmachen kann, schlüpft Helena unter meine Bettdecke, umklammert mich fest. Ich komme aus dem Tiefschlaf, muss mich
erstmal orientieren und erstmal checken, was hier abgeht. Ich fasse ihr
mit einer Hand an den Hinterkopf und drücke sie an mich heran. Sie weint. Ich streiche über ihre Haare, schiebe die Bettdecke ein Stück herunter. Normalerweise kommt sie nicht mitten in der Nacht in mein Bett
gekrabbelt. Hatte sie schlecht geträumt?

Nach fünf Minuten beruhigt sie sich. „Ist alles gut bei dir?“, frage ich sie. Sie sagt: „Ja, alles ist gut, ich bin glücklich und ich konnte es alleine nicht mehr aushalten. Ich habe Angst, aus meinem Traum aufzuwachen.“ – „Aus welchem Traum?“ – „Ich denke manchmal, dass ich in einem Traum bin und wenn ich aufwache, bin ich wieder bei [ihren vorherigen Pflegeeltern].“ – Was für ein Drama und was für ein Kompliment zugleich. „Nein, das passiert nicht, Helena. Du träumst nicht. Das, was [ihre vorherigen Pflegeeltern] gemacht haben, war nicht okay. Dieser Albtraum ist zum Glück vorbei und du bist jetzt daraus erwacht, wenn du so willst. Du kannst ganz beruhigt sein. Marie und ich passen auf dich auf. Du bist hier in einer ganz anderen Stadt, du wirst [den bisherigen Pflegeeltern] nicht mehr begegnen, wenn du es nicht willst.“ – „Es ist so schön hier. Ich habe das alles noch immer nicht realisiert. Alleine dass ich mit [ihrer Freundin] reiten kann und hier mein eigenes Zimmer habe und dass ich nicht mehr lügen muss und ihr mich
wirklich nicht schlagt. Ich rede schon wie eine alte Oma, oder? Vorhin beim Einschlafen habe ich auch schon geweint. Crying for no reason.“

„Da sind schon many reasons, würde ich sagen. Und ich finde es auch gut, dass du das rauslässt und auch erzählst, was dich bewegt.“ – „Bin ich normal?“ – „Du bist sowas von normal, Helena, da mach dir mal keine Sorgen. Und das, obwohl ich ’normal‘ gar nicht mag.“ – „Darf ich bei dir
schlafen? Es ist wirklich nur für diese eine Nacht.“

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