Kaltstart und frisch überfahren

Das Wochenende ist da, Socke hat am Samstag um sieben Uhr Dienstbeginn und im Warteraum der Station sitzen schon sechs Elternteile mit ihren kranken Kindern. Jene Menschen, die zu fit für die Notaufnahme sind, aber nicht bis Montag auf ihren Kinderarzt warten wollen, werden dorthin geschickt, weil es hier keine Kinder-Ambulanz gibt. Mit mir zusammen hat mein aktueller Lieblingskollege Dienst. Er unterstützt eine weitere Kollegin auf den beiden Kinder-Intensivstationen und mich, sofern es auf den vier peripheren Kinderstationen zu viele Probleme gleichzeitig gibt.

Eine weibliche Pflegekraft, Anfang 20, examiniert, ist heute alleine auf der Station. Zwei ihrer Kolleginnen haben sich heute morgen mit Magen-Darm-Grippe krank gemeldet. Ihr Hemd ist unter den Armen, an der Brust und am Rücken von Schweiß durchtränkt. „Ich weiß gar nicht, was ich zuerst und zuletzt machen soll. Ich müsste Frühstück verteilen, aber du siehst ja selbst“, sagt sie und deutet auf die Anzeige auf dem Flur, die sechs aktuelle Patientenrufe anzeigt. „Kann was Akutes dazwischen sein?“, frage ich sie. Sie antwortet: „In der Sechs und in der Elf vielleicht.“ – „Du die Sechs, ich die Elf.“

In Zimmer 11 hat sich eine Zwölfjährige übergeben. Die gute Nachricht: Im Magen war so gut wie nichts drin und den Fußboden kann man wischen. Die schlechte Nachricht: Das Mädchen hat eine Lernbehinderung,
vielleicht sogar eine geistige Behinderung, hatte eine Nasensonde im Magen, die natürlich mit hochgekommen ist. Ein Ende guckt aus der Nase, das andere Ende hängt blutend aus dem Mund. Sie ist völlig überfordert und entsprechend groß ist das Spektakel. Sie hustet, würgt, zappelt und kreischt. Die Zimmernachbarin ist elf Jahre alt, kreidebleich vor Schreck, starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an.

Das betroffene Mädchen tobt wie eine Katze, der man eine scheppernde Blechdose an den Schwanz gebunden hat, durch das Zimmer. Wären Vorhänge im Raum, wäre sie an denen wohl schon hochgelaufen. Wenn ich alleine eine Chance haben soll, dass sie zu mir kommt, hilft nur, ihr nicht hinterher zu rollen. „Hallo! Da muss dir jetzt mal ein Arzt helfen, von alleine geht das nicht weg! Komm zu mir, ich kann dir helfen. Hierher zu mir. Wenn du rumtobst, wird es nur noch schlimmer. Komm zu mir, hierher.“ – Sie kommt tobend in meine Richtung. Ich schnappe sie mir mit einem Arm und ziehe sie zu mir auf den Schoß. „Setz dich hierhin. Hier auf den Schoß. Ich helfe dir. Nicht zappeln.“ – Ich lasse sie los, schnappe mir mit ganzer Kraft ihren Kopf und drücke ihn mit ihrer Wange gegen meine Schulter. Quasi wie im Schwitzkasten. Sie schreit wie am Spieß. Das Ding ist noch ausreichend feucht. Eine Schere und ruhige Atmung wären mir zwar lieber gewesen, aber … zack, draußen. Sie hat es gar nicht mitbekommen. Ich lasse sie los. Sie springt von meinem Schoß. Ich rufe ihr zu: „Hier, alles vorbei, hier ist das Ding. Guck!“

Sie guckte, fasste sich ins Gesicht und hörte augenblicklich auf zu schreien. Kam auf mich zu, fast schon bedrohlich, riss mir die Sonde aus der Hand und feuerte sie gegen die Wand. „Sowas will ich nie wieder!“, brüllte sie. Im gleichen Moment riss jemand die Tür auf. Eine Patientin aus einem anderen Zimmer. Ich dachte erst, wegen des Lärms, aber: „Können Sie mal schnell kommen?“ – Eigentlich nicht. Ich fragte: „Wohin?“ – „Zimmer sechs. Schnell! Bitte!“ – Auch das noch. Auf der anderen Seite des Flurs rannte die Pflegekraft von der Nachbarstation mit dem Notfallwagen. Im Fahren holte ich mein klingelndes Telefon aus der Brusttasche. Mein Lieblingskollege war wohl angepiept worden. „Braucht ihr Hilfe?“ – „Ja sofort.“ – Eine Schwester von der Station über uns kam auch schon angerannt.

Das Mädchen in Zimmer sechs ist nicht ansprechbar und hat ein blaues Gesicht. Ist zur Diagnostik am Vortag aufgenommen worden, fragliches allergisches Asthma. Sei gestern den ganzen Nachmittag lang quietschfidel gewesen. Die Bettnachbarin sagt, sie habe heute morgen plötzlich komische Geräusche von sich gegeben, sei blau angelaufen, da habe sie sich ihre Musik aus den Ohren genommen und geklingelt. Die Pflegekraft will eine Sauerstoffmaske und ein Pulsoxymeter vorbereiten. Einen ganz schwachen, schnellen Puls kann ich am Hals tasten. Ihre Atmung ist nicht sichtbar, hörbar oder fühlbar. „Atmung höre ich gar nicht. Puls ist noch. Bett bitte ein Stück von der Wand weg, venösen Zugang mach ich, EKG dran, und sie ist auch gleich reanimationspflichtig. Wir intubieren.“ – Eine weitere Schwester kommt in den Raum. Und eine Frau mit Jacke. Wo bleibt mein Kollege? Die Schwester schiebt erstmal das Bett der anderen Patientin quer an die Wand, Stühle und Nachttisch aus dem Weg, macht einen Höllenlärm. „Wer sind Sie?“, frage ich die Frau mit Jacke. Sie antwortet mit weit aufgerissenen Augen: „Meine Tochter!“ – „Ist in Ordnung, ich kümmere mich um Ihre Tochter. Warten Sie bitte draußen.“ – Zugang liegt. Medikamente zur Narkose-Einleitung sind bereit. Ich sage: „Tubus haben wir, Laryngoskop haben wir, dann geht es los. Bring doch mal jemand die Mutter raus. Und schau mal bitte jemand nach der Patientin in Zimmer elf. Der habe ich eben die Nasensonde gezogen, nachdem sie erbrochen hatte.“

Die Patientin dämmert weg. Inzwischen ist das Kopfteil des Bettes entfernt, so dass ich ungehinderten Zugang zu ihrem Kopf habe. „Es sieht nicht so aus, als ob sie aspiriert hätte.“ – Also nicht erbrochen und dann die Soße eingeatmet. Der Tubus liegt auf Anhieb richtig. Beatmungsgerät lässt sich starten und beatmet. Sie hat trotz entsprechender Medikation noch immer ein spastisches Atemgeräusch. Die Kreislaufwerte stabilisieren sich aber. Als endlich das EKG geschrieben wird, kommt mein Kollege um die Ecke. „Was ist hier denn los? Blue Bayou?“ – „Nach dem EKG scheint es nicht vom Herzen herzurühren. Ich würde sie gerne auf Intensiv verlegen. Ist da was frei?“ – „Nein.“ – „Können wir was tauschen?“ – „Ich nehme sie erstmal mit, kann sein, dass ich dir gleich jemanden rüberschicke. Ein Junge ist gestern operiert worden, der ist soweit stabil und der könnte eigentlich verlegt werden.“

Während die Patientin rausgeschoben wird, geht mein Lieblingskollege hinterher, klopft mir im Rausgehen beiläufig auf meinen Rücken. Nicht auf die Schulter, sondern auf den Rücken. Anerkennend? Nee, er kneift mich an der Stelle so geschickt, dass mein BH-Verschluss unter meinem Hemd aufgeht. An der Tür dreht er sich zu mir um. Grinst von einem Ohr zum anderen und zwinkert mir zu. Ich sitze da wie Klein-Doofi mit Plüsch-Ohren. Hatte er mir wirklich gerade an meinen völlig verschwitzten Rücken gefasst? Hatte er mir wirklich meinen BH geöffnet? Fand er das wirklich witzig? Ich rollte ins Bad, zog mein Oberteil aus, wischte mir damit den Schweiß von der Stirn, warf mir eine Kurve kaltes Wasser ins Gesicht, schloss meinen BH und zog mir ein trockenes Oberteil an. Zurück im Dienstzimmer, hielt mir die Kollegin aus der Pflege eine Flasche Mineralwasser hin. „Jule? Danke, dass du so schnell da warst. Es macht echt Spaß, mit dir zu arbeiten.“ – Ich nehme sie einmal in den Arm.

Der Eine macht mir den BH auf, die Zweite lobt mich, die Dritte springt fast über die Wupper und die Vierte tanzt wie Mister Hyde mit einem Schlauch aus Mund und Nase diagonal durch den Raum. Und das alles innerhalb der ersten halben Stunde. „Das war ein Kaltstart.“

Noch bevor ich was trinken kann, kommt eine Mutter an die Tür. „Kann bitte mal ein Arzt nach meinem Sohn sehen? Er hat eben gespuckt.“ – Der 6 Jahre alte Junge war gestern mit Gehirnerschütterung gekommen und eine Nacht zur Beobachtung geblieben, nachdem man im MRT nichts gesehen hatte. Ich fahre mit. Die Pupillen reagieren seitengleich, die anderen Hirnnerven, soweit ich sie testen kann, sind auch unauffällig. War das nur die Aufregung? Der junge Mann ist orientiert und lebhaft, spielt mit einem grauen Plüsch-Delfin. Der schwimmt durchs Bett und stuppst mich immer wieder am Arm an. Ich schnappe mir den Delfin und vestecke ihn unter der Bettdecke. „Der taucht“, sage ich. Der Junge guckt hinterher und macht eine unübliche Ausgleichsbewegung. „Ist dir schwindelig?“, frage ich ihn. Der Junge schüttelt den Kopf und hält sich schon wieder mit der Hand fest. Ich entscheide mich, ihn nochmal ins MRT zu stecken. Am Ende stellt sich heraus: Falscher Alarm.

Um halb neun kann ich mich endlich um die erste ambulante Patientin kümmern. Um halb elf kommt die Mutter wieder, deren Tochter ich am Morgen intubiert hatte. Inzwischen hatte man den Schlauch schon wieder entfernt. Sie drückte mir die Hand und weinte. „Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie so schnell reagiert haben. So schlimm wie heute war es noch nie. Wir hatten vor einem Vierteljahr schon einmal den Notarzt holen müssen, der hatte ihr damals auch einen Schlauch in die Lunge gelegt. Aber danach waren wir mit ihr regelmäßig bei einem Lungenarzt und der hatte ihr eigentlich Medikamente aufgeschrieben. Gestern morgen war es wieder sehr schlimm, und heute wäre sie ja fast erstickt. Und mein Mann ist auf Dienstreise und ich kann ihn nicht erreichen. Ich wollte eigentlich nur schnell vor der Arbeit nochmal nach ihr sehen, so hatten wir es besprochen. Wie kann ich Ihnen bloß danken? Können meine Familie und ich uns irgendwie erkenntlich zeigen bei Ihnen?“ – „Ich freue mich, dass ich Ihrer Tochter helfen konnte und dass Sie nochmal zurückgekommen sind.“ – „Ich war so geschockt, als ich sie so dort liegen sah.“ – „Das tut mir sehr leid.“ – „Aber dass Sie so ruhig bleiben können dabei, bewundere ich ja. Als ich beim letzten Mal den Notarzt rufen musste, habe ich mich drei Mal verwählt, so zittrig war ich. Ich könnte das nicht.“

Um frühen Nachmittag löste mich meine Oberärztin ab. Und meckerte herum, dass sie an einem Samstag im Advent Dienst schieben sollte. Als ich losfuhr, schickte ich Helena eine Nachricht. Sie und Marie wollten kochen. Hoffentlich würde ich nicht im Stau steckenbleiben oder noch zu irgendwelchen Erste-Hilfe-Leistungen angehalten werden. Bei meinem Glück… Nein, ich war püntlich zu Hause. Es gab Geschnetzeltes mit Reis, Möhren, Tzaziki und einer großer Schüssel buntem Salat. „Endlich mal wieder etwas leckeres. Unser Schulkoch hat Urlaub und seine Vertretung macht das alles immer nur lauwarm. Neulich gab es was mit Huhn, das schmeckte so lauwarm und labberig, wie frisch überfahren. Aber das hier …
lecker. Wir sind genial, oder Marie?“


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