Ableismus und Stigma

Dass ich seit vielen Jahren versuche, den Menschen um mich herum einen Spiegel vorzuhalten, wenn mich jemand anschaut und mal wieder nur einen Rollstuhl sieht, ist nicht neu und haben alle, die meinen Blog regelmäßig lesen, wohl schon mitbekommen. Was heute „Able-ismus“ genannt wird, also die Beurteilung meiner Persönlichkeit anhand meiner Fähigkeiten, zieht sich seit jeher durch meinen Blog. Leider scheint diese Seuche nicht auszurotten zu sein.

Ich finde es ja charmant, beispielsweise besonders schlau, besonders schnell, besonders kräftig oder auch besonders hübsch zu sein. Ich unterhalte mich gerne mit schlauen Menschen, fiebere sehr gerne mit tollen Sportlerinnen, lasse mich gerne von einem muskulösen Menschen tragen und könnte stundenlang einen wunderhübschen Mann anblicken. Oder eine wunderhübsche Frau. Eine der hübschesten Frauen, die ich persönlich kennenlernen durfte, hat übrigens das 21. Chromosom drei Mal.

Ich finde es wichtig, auch gegenüber sich selbst anspruchsvoll zu sein. Und für das alltägliche Zusammenleben brauchen wir Maßstäbe und Schubladen, und selbstverständlich müssen wir sortieren. Ich möchte nicht, dass mir jemand eine Spritze setzt, der von dem, was da drin ist, keinen blassen Schimmer hat. Mir ist sehr wichtig, dass der Mensch, der mir meine Winterräder ans Auto schraubt, begreift, was er da tut. Und auch wenn mir meine Frisörin jedes Mal wieder erzählt, welche Gangster in ihrem Haus wohnen und dort regelmäßig randalieren, möchte ich sie nicht eintauschen. Aber darum geht es auch gar nicht.

Ich kann einen Menschen nicht anhand seiner Fähigkeiten beurteilen. Wer legt bitte fest, was Fähigkeiten sind, welche gut und welche schlecht sind? Kennt jemand alle Fähigkeiten eines anderen Menschen? Oftmals kennt man seine eigenen Fähigkeiten ja noch nicht mal vollumfänglich. Und den Wert eines Menschen kann überhaupt niemand beurteilen. Nicht zuletzt, weil es niemandem zusteht, den Wert eines Menschen festzulegen. Ich kann mir meine persönliche, subjektive Meinung bilden. Und diese auch vertreten. Eigentlich hatte ich gedacht, oder zumindest gehofft, dass das gerade in Deutschland seit mindestens 75 Jahren Konsens wäre. Stattdessen lese ich gestern auf einer Gratulationskarte an Marie:

„Liebe [Marie], wir freuen uns mit dir, dass du es geschafft hast! Wir zweifeln keine Sekunde daran, dass du schon bald eine mindestens genauso gute Medizinerin sein wirst wie deine Mutter, die [meinem Mann] und mir nun schon seit so vielen Jahren, in guten und in schlechten Zeiten, mit Rat und Tat zur Seite steht und immer für uns da ist. [Wir] erinnern uns noch sehr genau an deine Anfänge in ihrem Labor. Die Zeit vergeht, und inzwischen bist du eine erwachsene Frau geworden und gehst deinen eigenen Weg! Wir hoffen sehr und wünschen dir von ganzem Herzen, dass dein abgeschlossenes Studium dir […] helfen wird, den Makel deiner Behinderung und der damit oft verbundenen gesellschaftlichen Wertlosigkeit mit eigener Kraft auszugleichen. Wir wünschen dir von ganzen Herzen eine gute Zukunft in deinem neuen Lebensabschnitt und hoffen, dass es dir [an der Ostsee] genauso gut geht wie [in Hamburg]! Herzliche Grüße, deine […]“

Die Dame ist noch nicht pensioniert und arbeitet im höheren Dienst einer Behörde. Hat also studiert, engagiert sich in Kirche und vor allem in der Politik, ist also keine Anfängerin, wenn es darum geht, die richtigen Worte zu finden. Na klar, unglückliche Formulierungen, ein Griff ins Klo, davor kann sich niemand immer bewahren. Aber „Makel“ und „gesellschaftliche Wertlosigkeit“ in einem Satz sind kein Versehen. Das ist das Spiegelbild einer behindertenfeindlichen und ableistischen Denkweise. Maries Mutter hat schon gesagt, dass sie eine ausdrückliche Entschuldigung dafür erwartet, auch wenn sie überzeugt ist, dass dieses Ehepaar es nicht böse gemeint hat.

Ich begreife diese Denkweise nicht.

Ich habe heute mit einer Nachbarin gesprochen. Sie brachte uns unsere Mülltonne wieder, die jemand bei ihr vor die Tür gestellt hat. Die Tonne wurde heute geleert und ich vermute, sie ist nach der Leerung bei dem Orkan hier durch die halbe Straße geweht, obwohl wir eigentlich dafür bezahlen, dass sie wieder zurückgebracht wird. Ich hatte sie noch gar nicht vermisst. Die Nachbarin wohnt seit drei Jahren hier und ist mit ihrer Lebenspartnerin aus Syrien geflüchtet. Wir sind schon öfter mal kurz ins Gespräch gekommen. So auch heute. „Der Lesbenhaushalt hat keinen Tannenbaum“, erzählt ein Nachbar (zum Glück nicht der, der bei uns den Rasen mäht) in der ganzen Straße herum. Sowas gebe es in Syrien nicht. Ich habe das auch schon mitbekommen, obwohl er Marie und mich noch nicht persönlich angesprochen hat. Sie erzählt: „Wir haben ihn in unsere Wohnung eingeladen, damit er sich davon überzeugen kann, dass wir dort kein offenes Feuer machen. Das hat er nämlich auch behauptet.“ – „Das müssen Sie nicht machen. Der Mensch hat ein dreckiges Mundwerk und verstößt gegen unsere Gesetze.“ – „Wir wollen keine Probleme. Davon hatten wir Jahre lang genug.“

Am Ende haben wir beide Frauen zu uns zum Abendessen eingeladen. Es gab nichts Besonderes, belegte Brote, Gemüse, Wasser, Tee. Und Kaminfeuer. Es war sehr schön, ein unterhaltsames und auch spannendes Gespräch, ein Viertel auf Deutsch, drei Viertel auf Englisch. Es ist übrigens zu keinem Zeitpunkt die Frage gestellt worden, warum wir im Rollstuhl sitzen und ob Marie und ich eine sexuelle Beziehung haben. Nur
mal so angemerkt. Und wir sind jetzt „per du“.

Helena hat uns heute berichtet, dass sie beim Reiten ihrer besten Freundin von ihrer bald beginnenden Psychotherapie erzählt hat. Sie geht vollkommen neugierig und positiv an das Thema heran. Die Freundin habe sie über die Probestunde ausgefragt und ganz interessiert zugehört. Eine anwesende Pferdebesitzerin, die Helena gar nicht kennt aber das Gespräch zwischen ihr und ihrer Freundin wohl mitbekommen hat, habe Helena ungefragt den Rat gegeben, das mit der Psychotherapie künftig für sich zu behalten, weil Psychotherapie „etwas Peinliches“ sei. Der Spruch hätte auch von meinem Vater kommen können.

Was denken Menschen eigentlich, was man da Peinliches macht? Können wir mal bitte aufhören, Menschen, die traumatisiert sind, mit dem Stigma zu beschämen, dass sie gerade von der Welt um sie herum falsch verstanden und ausgegrenzt werden?

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