Antibiotika nix gut

Die ersten Festtage haben wir alle gut überstanden. Ich musste am 1. Weihnachtstag arbeiten und hatte entgegen meiner Erwartungen eine eher ruhige Schicht. Ich musste mich zusammen mit einer rund 60 Jahre alten Kinderärztin, die nur aushilfsweise eingesetzt war und normalerweise in einer Behörde arbeitet, um vier periphere Kinder- und Jugendstationen kümmern sowie um alle ambulanten Patienten unter 18 Jahren, die keiner sofortigen Notfallbehandlung bedürfen.

Als einziges kleines Drama kam gleich am frühesten Morgen ein 2 Jahre
altes Kind auf dem Arm des Vaters zur Station. Der Vater verstand nur einzelne Worte, die Mutter auch nicht viel mehr. Zum Glück sind sie nicht erst durch das ganze Gebäude gelaufen, sondern haben sich sofort am Empfangstisch gemeldet und die examinierte Pflegekraft hat sie gleich
umgeleitet: „Kannst du dir das Kleinkind mal bitte ansehen? Das könnte ansteckend sein, daher hab ich die Familie gleich isoliert.“

„Mach ich“, sagte ich. Meine Aushilfskollegin sagte: „Ich will mal gucken, wie das im Rollstuhl so klappt. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Wenn es dich nicht stört.“ – „Nö, kein Problem.“

Als ich die Tür öffnete und das glühende und eher teilnahmslose Kind auf dem Arm des Vaters sah, fiel mir sofort das sogenannte Milchbärtchen
auf. So nennt man ein typisches Symptom, bei dem der Bereich um den Mund von einem (ebenfalls typischen) Hautausschlag ausgespart bleibt. Auch die Kollegin erkannte das von weitem und sagte gleich: „Oha, du hast Kinder zu Hause, oder? Soll ich das übernehmen?“ – „Nein, ist okay.“ – „Zieh dir einen Mundschutz an.“ – „Ja.“ – So fürsorglich ist es
ja selten an meinem Arbeitsplatz.

Die Symptome waren so eindeutig, dass man sich fast schon die weiter eingehende Diagnostik sparen könnte, um den sich unmittelbar aufdrängenden Verdacht auf Scharlach zu bestätigen. Die Mutter gab an, bereits vor fünf Tagen bei einer Krankenschwester gewesen zu sein, die Kamillentee gegen die Entzündung im Hals und Wadenwickel gegen das Fieber empfohlen hätte. Wenn ich das richtig verstanden habe. Der Hals war ein einziger Eiterherd, das Kind musste unheimliche Schmerzen haben.
Der Puls lag bei 150 Schlägen pro Minute. Abstrich ließ es problemlos mit sich machen. „Ich würde auch einmal Blut abnehmen“, sagte ich. Beim Schnelltest bestätigte sich dann das, was ich eigentlich ausschließen wollte: Eine akute Sepsis. Vermutlich ist der Eiterherd im Hals bereits in der Blutbahn angekommen.

Die Mutter sagte: „Antibiotika? Oder nix Antibiotika?“ – Ich sagte: „Antibiotikum auf jeden Fall, ja.“ – „Antibiotika nix gut, Gift für Kind.“ – Die Kollegin konnte nicht mehr an sich halten: „Antibiotika sofort.“ – „Kind nix Antibiotika.“ – „Kind ist morgen mausetot ohne Antibiotika.“ – Die Mutter guckte mich mit großen Augen an. Ich holte unsere Übersetzungsfolien aus der Schublade. Ihre Sprache war mit drauf,
nur leider konnte sie nicht lesen. Aber der Vater ein wenig, als er seine Brille aus der Tasche geholt hatte. Ich nahm mir einen Fasermaler und kreiste Blutvergiftung, Scharlach, Intensivstation und Antibiotikum ein. Er redete mit seiner Frau. Sie kam in Fahrt: „Kind doll krank?“ – Ich antwortete: „Kind ganz doll krank! Kind braucht Hilfe. Okay?“ – „Kind muss sterben?“ – „Nein. Doktor hilft Kind. Kind bleibt hier. Okay?“ – „Doktor bitte Hilfe. Kind nix Antibiotika.“ – Die Kollegin holte schon tief Luft, als die Mutter einen Allergiepass aus ihrer Jackentasche fischte. Allergie gegen Penicillin. Das wollte sie also mitteilen. Sie war also nicht grundsätzlich gegen Antibiose, sondern wollte verhindert wissen, dass ihr Kind Penicillin bekommt. Ich sagte: „Penicillin. No. Nix Penicillin.“ – Die Mutter nickte aufgeregt. „Nix Penicillin gut. Bitte Doktor Hilfe.“ – Jetzt fing sie auch noch zu weinen an.

Ja, ich bin auch dafür, Antibiotika sehr sparsam, gut überlegt und korrekt einzusetzen. Aber sorry, wenn ich die radikalen Positionen einiger Eltern, die Antibiotika, Impfstoff und Bluttransfusionen generell und konsequent ablehnen, nicht nachvollziehen und nicht teilen kann. Zum Glück hat sich dieses „Missverständnis“ sehr schnell aufgeklärt. Es wäre ansonsten ein Fall gewesen, bei dem wir über das Jugendamt eine gerichtliche Anordnung zur Behandlung eingeholt hätten. Denn das war schon lebensgefährlich.

Auf dem Rückweg nach Hause stand eine relativ neue A-Klasse mitten auf der Straße. Mit Warnblinklicht. Ein Rad stand auf der Gegenfahrbahn,
wie nach einem Ausweich-Manöver. Der Fahrer hatte eine Warnweste angezogen und kam mir mit dem Warndreieck entgegen. Na super. Jemanden angefahren? Mein neuer Notfall-Rucksack liegt noch zu Hause. Ich hielt an. „Brauchen Sie Hilfe?“ – „Nein, die Polizei ist schon unterwegs. Die Ricke ist tot.“ – „Sie sind nicht verletzt?“ – „Nein, mir geht es gut. Naja, ‚gut‘ ist übertrieben, aber es ist alles in Ordnung. Vielen Dank.“
– Vor dem Auto lag ein totes Reh, relativ jung. Am Auto hing das Kennzeichen senkrecht herunter. Blechschaden war nicht sichtbar. Airbags
waren auch zu. Mehr war im Vorbeifahren nicht zu erkennen. Ich entschied mich, weiterzufahren.

Am 2. Weihnachtstag waren wir bei Maries Eltern. Es gab kein Flattervieh zu essen, sondern einen Kartoffel-Auflauf mit ganz vielen unterschiedlichen Gemüsesorten. Super lecker. Am Nachmittag waren Marie und ich mit Helena in der Sauna und im Pool, während Maries Eltern bei Freunden zum Weihnachtsbesuch waren. Helena entwickelt sich definitiv zum Wassertier.

Bis jetzt haben wir die Anschaffung eines Smartphones für Helena noch
nicht bereut. Sie legt es tatsächlich von sich aus nach einiger Zeit weg. Zwei Nächte lag es in der Küche, so dass ich davon ausgehe, dass sie es nachts nach unserem Einschlaf-Ritual nicht noch einmal in die Hand nimmt. Aber das Ding ist schon eine gewisse Größe im Alltag. Wir beobachten es im Moment noch ohne Sorge.

Als ich heute von der Arbeit nach Hause kam, war Marie kurz zum Silvestereinkauf los. Helena und ihre beste Freundin waren alleine zu Haus. Als ich aus dem Auto stieg, hörte ich schon laute Musik. Und als ich die Tür aufmachte, tanzten im Wohnzimmer zwei Mädels gackernd zur aufgerissenen Anlage. Gerade war Morandi mit seiner Kalinka fertig, nun sang Willy William ihnen was vor, sofern man das „singen“ nennen kann. In diesem Sinne: „La lalalala la la la!!!“

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