Heini, Bärbel, Aschenbrödel

Bei kaltem Wetter wird mehr gekuschelt. Deswegen werden ja auch in den Monaten Juli, August und September in Deutschland die meisten Kinder geboren. Einen kleinen Kick gibt es nochmal mit den ersten Frühlingsgefühlen, aber ansonsten ist die stimmungsvolle Zeit vor Weihnachten und kurz danach diejenige, in der die meisten Kinder gezeugt werden. Das bedeutet auch: Jemanden, der aus eher peinlichen Gründen die Notaufnahme aufsucht, wird man am ehesten in dieser Zeit dort antreffen.

Nun arbeite ich derzeit nicht in der Notaufnahme und bin damit schon gar nicht für gynäkologische oder urologische Notfälle zuständig. Worum ich, ehrlich gesagt, auch nicht traurig bin. Allerdings gibt es weniger spektakuläre Notfälle oder auch Entscheidungen, die durch die aktuelle Auslastung der Notaufnahme begründet sind. Oder auch Menschen, die sich selbst nicht als Notfall einschätzen und eher in eine fachspezifische Ambulanz gehen.

Eine Kinder-Ambulanz haben wir nicht, Kinder werden bei uns nur mit Einweisungsschein oder als Notfall aufgenommen. Alle anderen müssten wir eigentlich wieder wegschicken. Es sei denn, dass es unzumutbar ist, zum
Notdienst zu laufen oder bis zum nächsten Werktag zu warten.

Mein Wochenend-Nachtdienst hat gerade begonnen, ich kümmere mich gerade um ein Mädchen, das sich bei bestehender Mukoviszidose noch einen fiebrigen Atemwegsinfekt eingefangen hat und vom ärztlichen Notdienst eingewiesen worden ist. Ich bin gerade mit der Aufnahme fertig, als mein Melder losgeht. Ich rufe zurück, flitze zum Aufzug, stehe drin, die Tür schließt sich, als in letzter Sekunde eine ältere Dame ihren Stock dazwischen hält. Die Tür geht wieder auf. „Heini, kommst du?“ – Heini ist noch nicht in Sichtweite. Die Dame grinst mich an. „Heini hat sich mal wieder festgequatscht.“ – „Können Sie bitte den nächsten Aufzug nehmen? Ich muss dringend zu einem Notfall.“ – „Wie bitte?“ – „Rein oder raus. Aber nicht den Aufzug blockieren, bitte.“ – „Heini kommt gleich.“
– „Ich muss zu einem Notfall. Geben Sie bitte die Tür frei.“ – „Ach, das hab ich nicht verstanden. Heini, komm schnell! Die Schwester muss zum Notfall. Heini!“

Heini kommt angetrottet. Dreht sich nochmal um. „Jetzt mal ein bißchen zackig!“, sage ich und klatsche in die Hände. Heini guckt mich mit bösem Blick an: „Würden Sie nicht im Rollstuhl sitzen, hätte ich Ihnen das aber jetzt übel genommen. Wieso scheuchen Sie mich so?“ – „Ich muss dringend zu einem Notfall und Sie blockieren den Aufzug.“ – „Na na, der Aufzug ist aber für alle da! Aber warum haben Sie das denn nicht gesagt?“ – „Hab ich, vier Mal.“ – „Bärbel, sie sagt, sie muss zum Notfall.“ – „Wird schon nicht so schlimm sein.“ – What? Die Aufzugstür öffnet sich. Bärbel steht im Weg. Bevor sich die Tür wieder schließt und ich noch eine Ehrenrunde durch das ganze Haus drehe, schiebe ich Bärbel sanft zur Seite und motze: „Aus dem Weg jetzt mal! Sie sind jawohl nicht ganz dicht.“

Nun war der Notfall kein lebensbedrohlicher, aber trotzdem: Das hat mich insgesamt locker zwei Minuten Zeit gekostet. Und solche Arroganz konnte ich noch nie leiden. Im Behandlungsraum war ein junges Paar. Sie ist vermutlich gerade volljährig oder knapp davor, er laut Gesundheitskarte gerade Sweet Sixteen. Er weinte, hatte Schmerzen, stand relativ unentspannt im Raum, sie umsorgte ihn wie eine Mama. Und eindeutig sie war es auch, die den Hut auf hatte. Ich fragte ihn, was sein Problem sei. Ihm war alles nur noch peinlich und er weinte nur. Es war kein Ton aus ihm herauszubekommen. Seine Freundin: „Wir waren im Bett und seine Vorhaut ist zu lang und zu eng, wie wir jetzt wissen.“

Da sollte man jetzt nicht zu lange warten, zumal sie ja nun auch, trotz Anfahrt mit dem Taxi, etwas länger unterwegs waren. Ich war schon auf weniger schöne Bilder gefasst, aber es sah erstmal halb so wild aus.
Ich will das jetzt auch nicht unnötig ausschmücken, nur die Tatsache, dass sein bestes Stück sonst immer völlig bedeckt ist, macht bestimmte Stellen natürlich extrem empfindlich, wenn es dann mal gerade nicht so ist. Bevor ich einen Facharzt anpiepen musste, war alles schon wieder in Ordnung. Mit viel Gel und zwei, drei Handgriffen war das akute Problem erstmal behoben. Und augenblicklich ging es ihm auch wieder besser. „Hast du mich noch lieb?“, fragte er als erstes seine Freundin. Oh jee!

Direkt danach ein sechsjähriger Junge mit aufgeschlagenem Kinn. Gestolpert und auf eine Eckbank gefallen. Blutet heftig. Die Zähne sind aber noch alle drin. Mit fusselnden Papiertaschentüchern in der Wunde herumzudrücken war vielleicht nicht die schlaueste Idee, aber wir haben es wieder hinbekommen. Und der junge Mann war ganz tapfer.

Um halb zwei, ich will mich gerade für einen Moment hinlegen, kommt der nächste „Notfall“ aus der Kategorie, die man sonst nicht alle Tage hat und dafür heute doppelt. Obwohl – das Paar war ja vor Mitternacht dran. Das zählt also nicht zum selben Tag. Ein weiblicher Teenie, Aschenbrödel nenne ich sie mal für meinen Blog, vierzehn Jahre alt, unten eine Schlafanzughose und eine Jogginghose, oben ein Schlafanzug-Oberteil und eine Daunenjacke. Und eine Plüschmütze. Ist aus dem Fenster geklettert. Mama und Papa schlafen zu Hause. Sie sollen nichts erfahren. Die Krankenkassenkarte hat sie in ihrer Geldbörse.

Auf meine letzte Anmerkung, dass ich gerne Kommentare lese, habe ich neben vielen Gratulationen und
tollen technischen Anregungen für meinen Blog auch den Hinweis bekommen, dass ich es manchmal zu wenig konkret für kommentierfreudige Menschen mache. Auch wenn ich mein Tagebuch in erster Linie für mich schreibe …

… stelle ich heute mal folgende Prüfungsfragen: 1. Dürfen Sie das Kind behandeln, ohne dass die Eltern dabei sind und ohne dass Ihnen ein schriftliches Einverständnis vorliegt? 2. Dürfen oder müssen Sie die Eltern informieren, oder verstoßen Sie damit gegen Ihre Schweigepflicht? 3. Dürfen Sie das Kind (nach der Behandlung oder davor, falls Sie diese ablehnen) durch die dunkle Nacht alleine wieder nach Hause gehen lassen
oder müssen Sie die Eltern verständigen? Viel Spaß!

Der Grund für ihren Besuch war eine verschwundene Haselnuss, vermutlich vom „bunten Teller“. Nicht der Stubenhase hat sie gefressen, sondern eher der Stubentiger. Ich schmücke auch das nicht weiter aus, und es war auch hier am Ende ziemlich harmlos. Hätte sie sich in die warme Badewanne gelegt (okay, das ist um halb zwei in der Nacht vielleicht mit etwas Radau verbunden), und sich mal völlig entspannt, wäre das Ding wohl ganz von selbst wieder rausgekommen. Zum Glück war es nur eine Haselnuss und keine drei, insofern stimmt der Name Aschenbrödel nicht ganz.

Ihr war das so unangenehm, dass sie mich beim Sprechen zuerst nicht ansehen wollte. Sie erzählte mir erst, sie habe sich aus Versehen draufgesetzt. Ich werde ja nicht gerne angelogen. „Du musst mir nicht sagen, wie es passiert ist“, sagte ich und streichelte ihren Arm. Sie murmelte: „Wahrscheinlich wissen Sie es sowieso.“ – „Genau. Ich vermute mal, du konntest nicht einschlafen. Du musst dir aber keinen Kopf machen, du bist nicht die Erste und auch nicht die Letzte, die mit so einem Problem hier auftaucht. Andere Leute probieren auch mal was aus.“

Nicht prüfungsrelevant: 4. Isst du gerne Haselnüsse und wieviele liegen noch auf deinem „bunten Teller“? 5. Würde dein Kind aus dem Fenster klettern und ins Krankenhaus laufen oder mit allen Problemen zu dir kommen?

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