Schöne Aussicht

Vor einigen Tagen habe ich mich, seit langer Zeit mal wieder, mit einer Freundin getroffen. Wir sprachen über alles mögliche, unter anderem aber über das Thema „Wohnen“ als Mensch im Rollstuhl. Aus Gründen.

Seit Jahren gelten in fast allen Bundesländern mehr oder weniger engagierte Bauvorschriften, die die Barrierefreiheit von Mietwohnungen regeln sollen. In den meisten Fällen wird unterschieden zwischen rollstuhlgerechten Wohnungen, die fast überall nur im öffentlich geförderten Wohnungsbau errichtet werden müssen, und barrierefrei erreichbaren Wohnungen, die inzwischen in fast allen Bundesländern nach einem bestimmten Schlüssel in allen Neubauten, ob öffentlich gefördert oder nicht, vorhanden sein müssen.

Besagte Freundin ist Rollstuhlfahrerin und verdient aus eigener Arbeit so viel Geld, dass sie für den sozialen Wohnungsbau nicht in Betracht kommt, jedoch sich ein eigenes Haus, das sie nach eigenen Erfordernissen barrierefrei ausbaut, nicht leisten kann – trotz aller persönlichen Zuschuss-Möglichkeiten. Also bleibt ihr nur der freie Wohnungsmarkt. Sie ist zudem recht fit, kommt also eigentlich auch in Wohnungen zurecht, die lediglich „barrierefrei erreichbar“ sind, ohne dabei über die für Rollstuhlfahrer vorgesehenen zusätzlichen Platzangebote und unterfahrbaren Küchen zu verfügen.

Was man aber wissen muss: „Barrierefrei erreichbar“ heißt lediglich, dass man ohne Stufe und ohne Schwelle bis hinter die Wohnungstür kommt. In den meisten Bundesländern geht es noch weiter, da müssen auch die Wohn- und Schlafräume schwellenlos erreichbar sein, eine Toilette, ein Bad und die Küche. Das bedeutet: Eine barrierefreie Wohnung ist mitunter
für jemanden mit Rollator geeignet, für jemanden im Rollstuhl aber nicht unbedingt, selbst wenn jemand noch so fit ist.

In dem Haus, in dem sie vorher gewohnt hat, war beispielsweise ein Tiefgaragenstellplatz zur barrierefreien Wohnung mit vermietet. Nur konnte sie den nicht nutzen, weil sie mit dem Rollstuhl nicht dorthin kam. Auch in ihren Kellerraum kam sie nicht. Die Bauordnung sagte: Der Aufzug muss Kellergeschosse nicht bedienen. Das Haus hatte auch eine wunderschöne Dachterrasse. Konnte sie aber auch nicht nutzen, weil der Aufzug auch das oberste Geschoss nicht bedienen muss. Es sei denn, dort würden auch barrierefreie Wohnungen liegen, was aber nicht der Fall war.

Die Wohnung hatte auch keine Dusche. Sondern eine Badewanne. Weil es einfacher ist, eine Badewanne als eine bodengleiche Dusche einzubauen. Die Landesbaubehörde weist in diesem Fall sogar explizit darauf hin: „Gemäß [Landesbauordnung] muss eine Wohnung ein Bad mit Badewanne oder Dusche haben. Dieses gilt auch für barrierefreie Wohnungen. Enthält das Bad nur eine Dusche, ist diese […] niveaugleich mit einer max. Höhendifferenz von 2 cm auszubilden. An Badewannen werden […] keine besonderen Anforderungen gestellt. Mit einer Badewanne sind die Anforderungen [der Landesbauordnung] erfüllt. Enthält ein Bad eine Dusche und eine Badewanne, sind die Anforderungen […] an die Duschplätze
nicht zwangsläufig umzusetzen, da die Badewanne als ausreichend barrierefrei gilt.“

Auch wenn ich persönlich gerne in einer Badewanne liege, ist es aus meiner Sicht ein Unding, wenn eine Behörde, die für die Umsetzung der Richtlien für barrierefreies Bauen sorgen soll (ohne Druck wird ja nicht
barrierefrei gebaut, wie wir wissen), Hinweise gibt, wie man sich die barrierefreie Ausgestaltung der Dusche sparen kann. Unglaublich.

Sie dachte damals: Erstbezug, Neubau, barrierefreie Wohnung in einem Haus, das extra für Menschen mit Behinderung gebaut wird – was soll da schief gehen? Besichtigung gab es nicht, weil die Rampe zum Haus erst am
Tag vor dem Einzug fertiggestellt wurde, Grundrisse wurden auch nicht herausgegeben, lediglich die Zimmergrößen. Mündlich wurde diverse Male gesagt, dass selbstverständlich alles ebenerdig sei. Sogar Reklameschilder (hier entstehen rollstuhlgerechte Wohnungen nach DIN) waren aufgestellt. Aber die sind, so die Rechtsprechung, leider nicht verbindlich, wenn es einen Mietvertrag gibt, in dem steht „soweit verfügbar“.

Leider war sie auch enorm unter Druck. Sie war damals in einem Internat untergebracht, weil sie nach dem Klinikaufenthalt nicht in ihre
Wohnung im dritten Stock ohne Aufzug zurück konnte. Diese Wohnung hatte
ihr die Wohnungsbehörde vermittelt. Als barrierefrei, mit dem Hinweis, dass sie keine weiteren Vermittlungsangebote bekomme, wenn sie diese Wohnung ablehne. Schließlich hatte sie bereits zwei im Hochhaus (laut Vormieter mit ständig defektem Aufzug) abgelehnt gehabt.

Auch bei ihrer jetzigen Wohnung war vorher keine Besichtigung möglich. Aber immerhin gab es die Bauzeichnung. Und die vertragliche Zusicherung, dass die Wohnung mit allen Räumen barrierefrei erreichbar ist. Die Wohnung liegt im Erdgeschoss, einen Aufzug gibt es nicht – bessere Ausgangsvoraussetzungen.

Denkste. Die Terrasse und der mit vermietete Garten (eine mit einer Hecke eingefriedeten Rasenfläche) sind nicht mit dem Rollstuhl erreichbar, weil die Terrassentür eine Schwelle von 10 Zentimeter Höhe und, direkt dahinter, eine Blockstufe von 15 Zentimetern Höhe hat. Die Blockstufe hat man inzwischen auf Drängen ihrer Anwältin entfernt, Terrasse und Garten um 15 Zentimeter „angehoben“. Aber die 10 Zentimeter
hohe Schwelle ist noch da und lässt sich, ohne dass das komplette Fensterelement herausgerissen und neu eingesetzt wird, nicht entfernen.

Der Vermieter ist nun auf die pfiffige Idee gekommen, einfach die Hecke auf einer Breite von 150 Zentimetern wegzunehmen und dort einen Weg zur Terrasse zu pflastern. Dieser Weg ist nun von der Straße aus erreichbar. Entsprechend rennen alle Paketboten, Hunde, …, über ihre Terrasse. Weil: „Wenn Sie eine Pforte davor setzen möchten, müssten Sie die selbst beauftragen. Kosten: Rund 700 Euro.“ – Und falls sie sich nun
noch immer unwohl fühlen sollte, könne sie ja wieder ausziehen. Schreibt eine große Hausverwaltung an die Anwältin. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.

Wenn die Freundin sich also jetzt im Bikini in ihren Garten legen will, mit einem Glas frisch gepresstem Orangensaft, dann muss sie durch ihre Wohnung, durch den Hausflur, über die Grundstückseinfahrt, auf die Straße, durch das Loch in der Hecke in ihren Garten. Bis dahin ist der Orangensaft lauwarm. Um die vergessenen Eiswürfel zu holen, …

Lediglich das Saarland, Mecklenburg-Vorpommern, Hessen, Bremen und Brandenburg regeln, dass in barrierefrei erreichbaren Wohnungen auch die
Terrasse oder der Balkon barrierefrei erreichbar sein müssen, wenn sie vorhanden sind. Fast alle Bundesländer sagen sogar: Es reicht, wenn in der ganzen Wohnung nur ein einziges Fenster so niedrig ist, dass man als
Rollstuhlfahrer rausgucken kann. Das sind doch, trotz allen Fortschritts, schöne Aussichten!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert