Infekt und Mobilität

Ich wollte gerade schon schreiben, dass nichts Außergewöhnliches passiert ist, da sitze ich im Dienstzimmer, schreibe noch meinen letzten
Bericht fertig, habe eigentlich schon Feierabend und alles an meine Nachtdienst-Kollegin übergeben und sehe plötzlich einen Kopf um die Ecke
des hölzernen Türrahmens schauen. „Frau Socke? Könnten Sie sich noch um
eine ambulante Patientin kümmern?“ – „Kann das nicht die Kollegin machen? Ich bin jetzt seit 12 Stunden hier und habe eigentlich Feierabend.“ – „Theoretisch schon, sie hat auch gerade nicht viel zu tun, aber wenn ich Ihnen morgen davon erzähle, würden Sie mich anmeckern, wenn ich Ihnen die Dame vorenthalten hätte.“ – „Wieso? Kenne ich sie?“ – „Möglich. Auf jeden Fall rollt sie auch. Ist 17 und total schüchtern. Hat Fieber und ein intimes Problem, wie sie sagt. Möchte bitte von einer Frau behandelt werden.“

Wieder eine mit Haselnüssen?
Oder anderem Spielzeug? Aber eine rollende Patientin weckt dann doch mein Interesse. Wie gut, dass ich noch nicht umgezogen bin. Ich rolle um
die Ecke, schiebe die Tür hinter mir zu und werde mit großen Augen angeschaut. „Wer bist du denn? Wir Rollifahrer sagen ‚du‘, oder?“ – „Wie
kann ich dir denn helfen?“ – Sie seufzt. Druckst rum. Ich beginne zu raten: „Blase, Darm, Druckstelle.“ – „Blase, ja.“ – Sie fängt an zu weinen. Es ist ein einfacher Harnwegs-Infekt, ihr allererster, und ihr ist das alles unendlich peinlich. Die Nieren waren bei der Untersuchung unauffällig, vermutlich ist nur die Blase betroffen. Am Ende haben wir eine Probe zur Keimbestimmung gewinnen können, die aber erstmal gezüchtet werden muss. Anhand ihrer Angaben (war nicht im Krankenhaus, hatte keinen Geschlechtsverkehr), ist es höchstwahrscheinlich, dass ein Darmkeim für den Infekt verantwortlich ist. Mit Blick darauf, dass sie bereits Fieber hat und wegen ihrer angeborenen Querschnittlähmung ein erhöhtes Risiko für Nierenschäden besteht, hat sie ein Penicillin gegen den vermutlich gram-negativen Erreger aufgeschrieben bekommen.

Mit ein paar Tipps und Infos, unter welchen Umständen sie noch einmal
zum Arzt muss, darf sie wieder nach Hause. Sie bedankt sich mehrmals und scheint froh zu sein, einerseits zu wissen, woran sie ist, andererseits eine gute Chance zu haben, dass das schon morgen wesentlich
besser ist. Ich mache Feierabend, setze mich ins Auto und muss noch an einer Apotheke vorbei, um Insulin für Helena zu holen. Das wollte ich gestern schon und vorgestern, aber ständig muss ich länger bleiben, weil
nicht genügend Personal da ist. Heute nun könnte ich es noch gerade vor
20 Uhr schaffen, in die Apotheke zu kommen. Vier Straßen weiter, ich stehe bereits auf dem Kundenparkplatz, schließt die Mitarbeiterin gerade
die Tür ab. Es ist zehn Minuten vor Acht.

Ich rolle bis vor die Tür. Die Mitarbeiterin lässt mich mit genervtem
Gesichtsausdruck doch noch rein. Ohne nachzuschauen weiß sie: „Das müssen wir bestellen.“ – „Eigentlich hatte ich angerufen.“ – „Mit wem haben Sie gesprochen?“ – Das ist doch jetzt völlig egal, oder? Ich zucke
mit den Schultern. „Aber Sie sind sich sicher, dass es unsere Apotheke war?“ – Noch so ein Spruch nach einem Zwölfstundendienst und ich springe
über den Tresen. Sie geht los, schaut in den Kühlschrank. „Haben Sie Glück, haben wir da. Sie wissen, wie Sie das anwenden müssen?“ – Ich sage nichts. Niemand bekommt Insulin verordnet, ohne zu wissen, was er damit machen soll. Aber sie will auch gar keine Antwort. „Möchten Sie ein paar Gummibären dazu? Oder Taschentücher?“ – „Nein, vielen Dank.“ – „Eine Zeitschrift?“ – „Nein.“ – Sie ist noch gar nicht fertig, da geht sie seufzend an mir vorbei zur Tür und öffnet sie erneut. Wer kommt rein? Die Patientin von eben. Ich darf nichts sagen. Aber sie spricht mich an, dieses Mal überhaupt nicht schüchtern: „Hey, das ist ja ein Zufall! Lange nicht gesehen, würde ich sagen.“ – „Tja, da hast du recht.
Und, was machst du hier? Bist du krank?“ – Sie grinst: „War gerade im Krankenhaus. Harnwegsinfekt. Aber die haben tolles Personal da. Sehr einfühlsam und so. Und ich musste überhaupt nicht lange warten.“

Ich nehme mein Insulin auf den Schoß, die junge Frau kommt dran. „Oh,
das hab ich nicht hier. Davon hatte ich heute schon mehrere. Brauchen Sie das dringend?“ – „Ich glaube schon“, sagt die Patientin und guckt mich an. Ich nicke. Die Mitarbeiterin sagt: „Ich könnte Ihnen ein ähnliches Präparat geben, da müsste ich aber einmal mit dem Krankenhaus Rücksprache halten.“ – „Entschuldigung, an welches haben Sie dabei denn gedacht?“, frage ich. Die Mitarbeiterin fährt mich an: „Geht Sie das was
an? Sie haben Ihr Insulin bekommen, da ist die Tür, auf Wiedersehen. Und nächstes Mal bitte nicht wieder fünf Minuten vor Ladenschluss, wir wollen auch mal nach Hause.“ – Alter Verwalter! Schlecht gefrühstückt? Bevor ich was antworten kann, wiederholt die Patientin: „An welches denken Sie denn dabei?“ – „Ich würde Ihnen […] geben. Das ist aus derselben Gruppe.“ – Ich ergänze: „Naja, das wird aber vom Darm ganz schlecht aufgenommen.“ – „Das stimmt ja so nicht“, sagt die Mitarbeiterin.

Okay, sie kennt die Evidenz nicht. Interessant, aber erstmal egal. Wenn ich mit einer Querschnittlähmung (und der damit einhergehenden relativen Darmlähmung und fehlender Kontrolle über den Schließmuskel) davon abhängig bin, möglichst nicht noch Durchfall zu bekommen (und dadurch nebenbei möglicherweise noch mehr Keime in den Harnweg), sollte ich schon Präparate vermeiden, von denen bekannt ist, dass sie vom Darm schlecht aufgenommen werden, dort entsprechend lange verbleiben und die ganze Besiedlung killen. Das sollte schon mit einfließen in die Auswahl.
Ich sage: „Ich würde alternativ […] geben, wenn Sie das vorrätig haben.“ – „Das hätte ich da. Aber das können wir jetzt hier nicht so einfach austauschen, das müsste das Krankenhaus entscheiden.“ – „Das entscheidet das Krankenhaus so. Gib mir mal bitte die Verordnung“, sage ich zu der Patientin, die in derselben Sekunde das Rezept vom Tisch nimmt, es mir grinsend unter die Nase hält und aus der in ihre Rückenlehne eingenähten Tasche einen Kugelschreiber hervorzaubert.

„Sie können da jetzt aber nicht einfach so drauf herum malen“, sagt die Mitarbeiterin und guckt mich mit großen Augen an. Ich denke mir so: Ich kann noch ganz andere Dinge. Und ich würde hier auch nicht so eine Show abziehen, wenn du mich eben nicht grundlos so rotzfrech angemacht hättest. Ich antworte: „Ich male nicht, ich ändere nur den Verordnungstext. Können Sie mir sagen, mit welchem Hersteller die [Krankenkasse] da Verträge hat? Dann würde ich den gleich aufschreiben.“
– Die Mitarbeiterin verschwindet im hinteren Teil der Apotheke und kommt kurz danach mit der Apothekerin wieder. Zu erkennen am Namensschild und den hübschen silbernen Knöpfen am Kittel. Sie stellt sich zwischen uns, beugt sich herunter und schaut sich die Verordnung an. „Haben Sie das gerade geändert?“ – „Ja, Sie haben das, was ich der Patientin ursprünglich verordnet hatte, nicht hier.“ – „Was heißt ‚ursprünglich verordnet‘?“ – „Die Patientin war vor einer halben Stunde bei mir in der Ambulanz und hat dort diese Verordnung bekommen. Nur das Präparat haben Sie nicht da.“ – „Können Sie sich mal bitte ausweisen?“ –
„Liegt im Auto.“ – „Jaja. Ich komme da mal mit.“ – „Ach, wären Sie dann
vielleicht so freundlich, bei dem Regen? Ich gebe Ihnen eben meinen Schlüssel, mein Portmonee liegt im Fach in der Fahrertür. Das geht schneller, als wenn ich die ganze Rampe entlang fahren muss. Schauen Sie, der dort hinten.“

Hauptsache, sie fährt nicht mit meinem Auto weg. Nein, sie kommt mit meinem Portmonee wieder. Ich krame den Ausweis von der Klinik raus. Den von der Handwerkskammer will sie gar nicht mehr sehen. „Können Sie wieder wegpacken. Sie müssen uns aber auch verstehen. Das kommt ja nun nicht alle Tage vor, dass jemand seine Patienten in die Apotheke begleitet.“ – „Wir haben uns hier zufällig wiedergetroffen. Und mit dem Verständnis ist das so eine Sache. Wissen Sie, ich bin heute morgen auch
um 7 Uhr angefangen, hatte noch nichts Vernünftiges zu essen, und hatte
am Telefon gefragt, wie lange Sie da sind. Bis acht, hieß es. Und zehn Minuten vor Acht ist bei mir eben ‚bis Acht‘, vor allem, wenn ich nur etwas rausholen möchte.“ – Die Dame hinter dem Tisch bekommt einen hochroten Kopf.

„Was machen wir jetzt hier?“ – Sie deutet auf die Patientin mit dem Harnwegsinfekt. Die Mitarbeiterin hinter dem Tisch sagt: „Ich hatte […] empfohlen, aber das wollte sie nicht.“ – Meine Güte, mach Feierabend! Ich frage meine Patientin: „Darf ich was zur Diagnose sagen?“ – „Jaja, unbedingt.“ – „Bei einer Darmlähmung ist das nicht sinnvoll.“ – Die Apothekerin sagt: „Nee, das würde ich dann auch nicht machen.“ – Danke. Und ich hätte es ihr nicht noch einmal unter die Nase gerieben, wenn die
Mitarbeiterin nicht noch einmal davon angefangen hätte. Zumal es meine Verantwortung ist und es auch die Apothekerin eigentlich nichts angeht, warum ich das so oder anders entscheide.

Zu Hause angekommen, werde ich begrüßt. Helenas Rollstuhl wurde heute
geliefert. Das Blau gefällt mir noch besser als in dem Katalog. Ein „Speedy 4teen“, ein typischer Rolli für Jugendliche. „Ich war mit Marie vorhin schon einkaufen damit. Der fährt sich super! Und der ist total wendig! Und ich bin mindestens genauso schnell wie sie. Und morgen fahre
ich damit zur Schule. Und kann eine halbe Stunde länger schlafen.“ – „Meinst du denn, dass das alle akzeptieren können? Oder gibt es blöde Kommentare, wenn du da mit so einem Ding ankommst?“ – „Es gibt blöde Kommentare. Aber die gibt es auch, wenn ich im Regen stolper und mit der
Nase voraus in den Dreck falle.“ – „Nicht wirklich.“ – „Ja, doch. Voll auffe Fresse. Und alle stehen daneben und klatschen. Aber [ihre beste Freundin] kam angelaufen und hat mir geholfen. Ich wäre aber auch alleine wieder hochgekommen. Ich habe das schon geklärt, in der Klasse kann ich den hinten in der Ecke parken und dann da zu Fuß rumlaufen.“ – „Das klingt nach einem Plan.“ – „Gut, oder?!“

„Sehr gut.“ – „Schade, dass das draußen regnet und kein Sommer ist, sonst wären wir zwei noch eine Runde um die Häuser gefahren, Jule. Du und ich und Marie. Oder alle nochmal ans Wasser und schauen, ob heute Wellen da sind. Und ein Foto machen vom Sonnenuntergang.“ – „Da brauchst
du wirklich noch etwas Geduld. Aber es wird schon ganz bald wieder wärmer.“ – „Ich möchte mit euch im Meer schwimmen. Und Sandburgen bauen.“

Gib dem Kind Mobilität!

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