Hokuspokus

Ich war heute nach Feierabend noch einmal im Schwimmbad. Helena war
mit eine Freundin verabredet, Marie hilft heute ihrer Mutter bei einer Jahresabrechnung und ich hatte nochmal Lust auf den Blindfisch.

Normalerweise glaube ich nicht an Hokuspokus. Aber manchmal habe ich das Gefühl, als gäbe es eine gewisse Paranormalität. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass die Frau bereits fertig ist mit Schwimmen und im nassen Badeanzug, in ein Handtuch eingewickelt, auf einer gefliesten Bank sitzt und … auf mich wartet? Würde sie sehen können, würde ich sagen, sie starrt Löcher in die Luft. Ich rolle zu ihr und begrüße sie mit einem herzlichen „Moin“, wie sich das für ein Nordlicht gehört.

Sie dreht ihr Gesicht in meine Richtung. Weint sie? Oder ist das vom Chlorwasser? Nein, sie weint. Neulich hat mich noch jemand gefragt, ob blinde Menschen weinen können. Sie versucht, das, was sie bedrückt, einigermaßen zu überspielen, aber es gelingt ihr nicht. „Hi Jule, schön,
dass du hier bist. Wie geht es dir?“ – „Danke. Was ist denn los mit dir? Ärger?“ – „Nee, alles gut.“ – „Du kannst mit mir sprechen. Oder möchtest du nicht?“ – Sie schüttelt den Kopf, verzieht das Gesicht, fängt an, Rotz und Wasser zu heulen. Ich nehme sie in den Arm und streichel ihr den Rücken. Ich kenne die Frau kaum.

Da ist was ganz bescheuertes passiert. So mitgenommen, wie sie ist. Das hab ich im Gefühl. Zum Glück hab ich noch nicht geduscht. „Wir ziehen uns jetzt an und dann setzen wir uns zu mir ins Auto und dann erzählst du mir alles, okay?“ – Würde sie das wollen? Ich möchte mich nicht aufdrängen. Aber sie nickte. Eine Viertelstunde später saßen wir tatsächlich in meinem Auto. Die Standheizung versuchte, die kalten Temperaturen draußen zu lassen. Und die sehbehinderte Frau fing sofort zu erzählen an: „Ich war heute nicht arbeiten. Ich konnte nicht.“

„Was ist denn passiert? Hat dich da jemand geärgert?“ – „Mein Mann hat mich verlassen. Ich habe mich gewundert, warum er nicht neben mir liegt heute morgen, habe totale Panik bekommen, dass ihm was passiert sein könnte, will ihn anrufen und lese eine Nachricht auf meinem Handy. Ich habe sie noch immer nicht vollständig entziffert. Magst du sie mir mal vorlesen, bitte?“

„Oh nein. Wie lange seit ihr denn verheiratet?“ – „Seit knapp drei Jahren. Kannst du mir das bitte vorlesen?“ – „Wenn du das unbedingt möchtest?“ – „Keine Sorge, Jule, ich kann das trennen. Ich verknüpfe das
nicht mit dir. Aber ich möchte wirklich wissen, was er geschrieben hat.
Wenn ich so aufgeregt bin, kann ich mich nicht konzentrieren, da können
Schrift und Kontrast noch so groß sein.“

Er schrieb sinngemäß: Liebe […], das ist ein Abschiedsbrief. Ich brauche eine Veränderung. Ich weiß noch nicht, wohin es geht und wo ich landen werde. Aber vor allem, dass wir keine gemeinsamen Kinder haben können, wird für mich zunehmend zu einem Problem. Ich habe nicht vermutet, dass mir etwas fehlen könnte, wenn ich immer im Hinterkopf habe, dass wir verhüten. Du bist eine wunderbare Frau und ich werde auch
in Zukunft immer an dich denken. Alles Gute, […]

Sie hörte auf zu weinen. Eine Zeitlang sagte niemand was. Dann kam von ihr: „Der spinnt ja total. Weiß der, was er tut? Wir haben Jahre lang, bevor wir geheiratet haben, immer wieder darüber gesprochen, dass wir beide es nicht möchten, dass unser Kind ebenfalls sehbehindert sein wird. Das war nie ein Problem. Und plötzlich ist es eins, quasi von heute auf morgen? Und ich erfahre das in einem Abschiedsbrief?“

„Darf ich ehrlich zu dir sein, auch wenn das vielleicht weh tut?“ – „Bitte, Jule, deine Meinung interessiert mich sehr. Du schaust ja quasi von außen drauf.“ – „Für mich klingt es, als ob das vorgeschoben ist. Ist denn überhaupt sicher, dass euer Kind eine Sehbehinderung haben würde? Habt ihr das testen, euch beraten lassen? Und es gibt doch auch andere Möglichkeiten, ein Kind zu bekommen. Adoption zum Beispiel. Wenn man das unbedingt wollte.“ – „Jule, das war nie ein Thema. Ich habe das erwähnt und wir haben Dutzende Male darüber gesprochen, dass uns Kinder nicht wichtig sind. Und an dem Stand hat sich nie etwas geändert. Ich weiß, wie er schreibt, und ich vermute, er hat eine andere Frau kennengelernt. Sein Herz war schon seit Wochen nicht mehr bei mir.“

„Das tut mir so leid.“ – „Weißt du, das Schlimme ist ja, dass ich ihn
so liebe. Und dass ich weiß, dass ihn niemand anderes so lieben wird wie ich. Würde er morgen, in einer Woche oder in drei Jahren wieder angekrochen kommen, ich würde ihm die Tür sofort wieder öffnen. Ich kann
mir nicht einfach einen neuen Mann suchen. Ich liebe ihn. Und stehe jetzt irgendwo im Niemandsland, hoffe, dass er zurück kommt, wenn er zur
Vernunft zurück findet und merkt, dass die andere Frau seine ganzen Träume auch nicht erfüllen kann.“

„Ist er denn so ein Träumer?“ – „Das liebe ich an ihm ja so. Ich hatte vor ihm eine kurze Beziehung, bevor ich ihn kennen gelernt habe. Und egal, mit welcher Freundin ich auch drüber gesprochen habe, alle haben mich beneidet. Er hat alles für mich getan, ich habe alles für ihn
getan, wir haben uns manches Wochenende stundenlang geliebt. Nicht nur im Bett, verstehst du? Wir waren selbst nach Jahren noch wie zwei verliebte Turteltäubchen. Schon morgens habe ich sehnsüchtig darauf gewartet, dass ich ihn nach Feierabend wieder neben mir habe. Und jetzt komme ich nach Hause und alle seine Sachen sind noch da. Und dann gehe ich ins Bett und sein Kopfkissen riecht nach ihm. Und jedes Mal muss ich
mir wieder sagen: Der kommt nicht mehr. Oder hoffen, dass er eines Tages doch zurück kommt.“

„Vielleicht wäre es besser, wenn du erstmal ein paar Tage zu einer Freundin gehst. Oder leben deine Eltern noch?“ – „Meine Mutter, aber die
würde sterben vor Mitleid, wenn ich jetzt eine Woche bei ihr einziehe. Aber ich werde meine Schwester fragen, ob ich ein paar Tage zu ihr kann.
Darüber habe ich auch schon nachgedacht.“ – „Wird sie das machen?“ – „Hundertprozentig. Sie ist Single, jünger als ich und hat schon immer gesagt, wenn mal was ist, mein Gästezimmer ist immer für dich offen.“

Während sie im Auto saß, telefonierte sie mit ihr. „Ich fahre dich eben zu ihr.“ – Das war doch kein Zufall, dass sie trotz dieses Zustandes heute schwimmen gegangen ist. Und das war auch kein Zufall, dass ich vorher an sie gedacht habe und gehofft habe, sie zu treffen. Kann mir niemand erzählen.

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