Mehraufwandszuschlag

Ich bin auch vor meinem Unfall immer mal zu Frau Sör gegangen. Ja, ich weiß, „Frau Sör“ ist flach, aber den Spruch habe ich von einem Kumpel, der an dieser Stelle immer wissen möchte, ob es eine „Frau Sör“ oder ein „Herr Sör“ war. Ohne weiteren Hintergrund, einfach des Wortspiels wegen. Er drückt sich damit und mit der erstmal erzeugten Verwirrung darum, so meine Vermutung, über eine neue Frisur Ge- oder Missfallen äußern zu müssen. Frau ist ja meistens und dann gerne begeistert, wenn Mann erkennt, dass einem am Kopf was fehlt. Und entzückt, wenn etwas Gewagtes einer wichtigen Person gefällt.

Bei mir wurde noch nie etwas gewagt. Ich bin farblos, kann einen Pferdeschwanz und unter einer Badekappe auch mal einen Dutt. Derzeit, also nachdem Frau Sör es mal wieder gerade geschnippelt hat, hängt mir das Gewächs bis knapp unter die Brustwarzen. Das unter den Armen ist etwas kürzer, nachdem ich es am letzten Freitag erst rasiert hatte.

Also: Vor meinem Unfall, da habe ich mich als 15 Jahre altes Mädchen hin und wieder mal von Mama zu Frau Sör schicken lassen. Und dann für einen Mädchen-Haarschnitt acht bis neun Euro bezahlt. Nach meinem Unfall
waren es bei einer deutschlandweit vertretenen Kette genau zehn, dazu gab es eine Treuekarte, mit der der zehnte Besuch gratis war. Also für 11 mal Spitzen schneiden habe ich 100 Euro bezahlt, macht rund 9,10 Euro
pro Schnitt.

Letzte Woche war ich, wie erwähnt, bei Frau Sör. Wieder nur Spitzen schneiden. Wieder dieselbe deutschlandweit vertretene Kette. Jetzt allerdings eine andere Filiale und jetzt allerdings mit Waschen und Föhnen. Hat genau 30 Minuten gedauert. Einschließlich drei Mal unterbrechen, weil das Telefon klingelte. Die Dame, die das bei mir macht, ist die stellvertretene Salonleitung. Gekostet hat es mich 61 Euro.

Okay, kein Vergleich zu den 9,10 Euro für einen „Mädchen-Haarschnitt“, aber 61 Euro für eine halbe Stunde Arbeit? Vor dem Jahreswechsel habe ich 45 Euro bezahlt, das fand ich schon grenzwertig. Jetzt haben die die Preise mal eben um 13 Prozent erhöht und dazu noch einen „Meister-Mehraufwands-Zuschlag“ in Höhe von 10 Euro eingeführt, der fällig wird, wenn Herr oder Frau Sör einen handwerklichen Abschluss hat.

Weil es ja mehr Aufwand bedeutet, wenn jemand mit Brief mir die Spitzen schneidet. Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin sehr dafür, dass eine Friseurin von ihrem Einkommen leben kann. Und tatsächlich soll
ihr Gehalt wohl zum Jahreswechsel um rund 400 Euro brutto pro Monat auf
2.150 Euro angehoben worden sein. Was sie mir ganz stolz mit feuchten Augen erzählte. Und was ich gerechtfertigt finde und ihr auch sehr gönne, denn sie ist sehr korrekt und sehr fleißig. Das heißt: Sie bekommt etwa 1.500 Euro netto überwiesen.

Um auf diese Summe zu kommen, müsste sie pro Monat 36 Frauen bedient haben. Das dürfte sie in einer Woche schaffen. Ich weiß, was ein Ladengeschäft kostet – brauchen wir nicht zu diskutieren. Aber wir reden
über 30 Minuten Haare schneiden. Wenn ich jemanden eine halbe Stunde auf der Straße reanimiere, ihm einen Zugang lege, ihn in Narkose setze, ihm einen Beatmungsschlauch in die Lunge lege und ihn bis zum Eintreffen
des Rettungsdienstes mit Herzdruckmassage und Beutelbeatmung über Wasser halte, darf ich ihm dafür anschließend rund 50 Euro in Rechnung stellen. Ich glaube, dann schneide ich dem Nächsten lieber die Haare.

Ich will nicht meckern. Eine Assistenzärztin im Krankenhaus bekommt im ersten Jahr laut Tarif zwischen 2.500 und 2.700 Euro netto monatlich ausgezahlt. Dazu kommen hin und wieder Schicht-Zulagen. Und oft besteht in Kliniken eine solche Personalknappheit, dass man mit etwas Geschick auch als Anfänger einige hundert Euro mehr raushandeln kann. Genug Geld,
um nach Frau Sör auch nochmal Herrn Sör, Herrn Maniküre, Frau Pediküre, Frau Walküre und die Stadt Küre in Nord-Anatolien zu besuchen.
Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass hier ganz offensichtlich die Gehaltserhöhung dazu benutzt wird, den Kunden im Verhältnis noch mehr Geld aus dem Kreuz zu leiern, um denjenigen die Taschen vollzustopfen, die vermutlich noch nie Kamm und Schere in der Hand gehabt haben. Während Frau Sör jahrelang gerade so eine Großstadtmiete bezahlen konnte.

Und fände ich meine Frau Sör nicht so sympathisch, würde ich irgendwo
hinrollen, wo nicht der Name einer großen Kette an der Eingangstür klebt.

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