Es nützt nichts. Ich muss es im Tagebuch aufschreiben, auch auf die
Gefahr hin, dass ich mich wiederhole und noch mehr Leserinnen und Leser
denken: So oft gibt es das doch nicht!
Doch, so oft gibt es das. Wir sind auf dem Rückweg von Maries Eltern an einem Fahrradunfall vorbeigekommen. Auto gegen Fahrrad, vermutlich Abbiegefehler der Audi-Fahrerin. Fahrrad lag auf der Straße, Radfahrerin
mit Helm lag daneben, ein halber Einkauf hatte sich quer über die Straße verteilt, der Audi stand zehn Meter weiter am Straßenrand.
„Das muss gerade eben passiert sein“, sagte Marie, während ich auf den Verkehr achtete. Der Audi war offenbar von einer sechsspurigen Straße in eine etwas kleinere, vierspurige eingebogen. Es war dunkel, eine Traube von zwanzig Leuten wuselte um die auf der Straße liegenden Frau herum.
Bevor die nun noch jemand überfährt, weil er vor dem Gegenverkehr noch schnell abbiegen will, wendete ich an der nächst möglichen Stelle, fuhr zurück und stellte mein Auto erstmal so diagonal vor die Frau, dass
Schlafmützen erst mein Auto anfahren müssten, um sie überfahren zu können. Ein Mann kam sofort an mein Fenster. Ich sagte: „Ich bleibe hier
mal einen Moment stehen, nicht dass das im Dunkeln noch jemand übersieht. Rettungswagen ist verständigt?“ – „Ja, die müssten gleich hier sein.“ – „Ist die Frau ansprechbar?“ – „Ja, sie hat nur Schmerzen im Bein. Vielleicht gebrochen. Wir haben gesagt, sie soll liegen bleiben.“
Schien nicht so schlimm zu sein. Die Audifahrerin hielt sich die Hände vor das Gesicht. Es dauerte vielleicht zwei Minuten, dann kam der Rettungswagen. Fast zeitgleich kam auch ein Streifenwagen angedüst und hielt direkt neben mir. Als der Fahrer ausstieg, öffnete ich das Fenster. „Wir würden uns dann jetzt vom Acker machen. Wir sind nur stehen geblieben, damit sie nicht noch jemand überfährt.“ – „Sie sind nicht unfallbeteiligt? Auch nichts gesehen?“ – „Nein, wir sind erst dazu
gekommen, als die Frau hier schon lag.“ – „Alles klar, dann parke ich den Streifenwagen mal etwas um. Vielen Dank, dass sie angehalten sind.“
Und tschüss. Als wir auf der Autobahn waren, sagte Helena vom Rücksitz: „Sagt mal, was passiert eigentlich, wenn jemand Unterschriften
fälscht? Also zum Beispiel einfach eine Entschuldigung auf dem PC tippt
und dann die Unterschrift von seiner Mutter oder seinem Vater unter den
Zettel malt?“
Lief da was? Plante sie, wie sie ihre zehn blauen Stunden
aufstocken könnte? Ich gab meinen Gedanken eine Ohrfeige. Wobei ich das
ja nicht unterstelle, sondern nur ausschließen möchte. Ich antwortete: „Dann wird er vermutlich erwischt, weil gerade Lehrer einen guten Blick dafür haben.“ – „Und wenn er erwischt wurde?“ – „Wurdest du erwischt? Oder hast du die Unterschrift gut genug hinbekommen?“ – „Hey Jule, du weißt ganz genau, dass meine Schrift so einzigartig ist, dass die alle sofort erkennen würden. Ich rede über [eine Mitschülerin], sie hat ihre ganzen Arbeiten nicht zu Hause gezeigt und die Fünfen selbst unterschrieben und sich dann auch noch eine Entschuldigung selbst geschrieben. Und war keinen Tag offiziell krank. Wenn sie jetzt Pech hat, fragt die Mutter nach, warum sie Fehlstunden eingetragen bekommen hat, und dann fliegt das alles auf.“
Marie sagte: „Stell dir mal bitte folgende Situation vor: Du freust dich auf das Eis, das für dich in der Tiefkühltruhe liegt. Kommst an einem warmen Sommertrag nach Hause. Und es ist weg. Du fragst mich: Hast
du es gegessen? Ich verneine das. Du fragst nach: Wirklich nicht? Ich verneine das nochmal. Und dann sagst du nochmal, worum es dir geht und ich sage nochmal: Ich war das nicht. Obwohl ich es gegessen habe. Was würdest du dann über mich denken?“ – Helena antwortete: „Dass du voll fies bist.“
Marie antwortete: „Genau. Eine Unterschrift auf einer Entschuldigung versichert ganz, ganz stark, dass es wirklich so gewesen ist. Das ist mehr als am Telefon, mehr als dabei in die Augen schauen, das ist fast so wie schwören. Das heißt: Wer die Unterschrift fälscht, schwört nicht nur falsch, sondern schwört auch noch im Namen von jemand anderem. Wie fühlst du dich, wenn jemand in deinem Namen Unwahrheiten behauptet und dann auch noch ganz dick unterstreicht, dass es genau so ist?“
Helena sagte: „Der könnte mich mal. Mit dem möchte ich erstmal nichts
mehr zu tun haben. Ich habe verstanden.“ – Ich sagte: „Mach es einfach nicht. Auch wenn das für den Moment vielleicht die einfachste Lösung ist, du enttäuschst damit ganz viele Menschen, die dir vertrauen. Du machst damit mehr kaputt, als wenn du zu Marie oder zu mir kommst und sagst, dass du einen Fehler oder eine Dummheit gemacht oder eine schlechte Note geschrieben oder geschwänzt hast und deswegen eine Unterschrift brauchst. Und vor allem: Du lebst in ständiger Angst, dass das mal auffliegen könnte.“
„Nein, ich habe das auch nicht vor. Wie gesagt, das würde bei mir sowieso jeder sofort erkennen wegen meiner krakeligen Schrift. Aber ich wollte mal wissen, was jetzt [die Mitschülerin] so erwartet. Vor allem, weil sie auch noch einen Stempel von ihrer Mutter draufgemacht hat dazu.
Ich glaube, die kriegt richtig Ärger zu Hause.“ – „Das glaube ich auch.
Und ich glaube, da wäre ich dann mal richtig sauer.“