Glücklich und zufrieden

Ja, gestern fühlte ich mich so halbwegs wieder fit. Was auch einigermaßen wichtig war, denn wir bekamen Besuch vom Jugendamt, das sich turnusmäßig anschauen wollte, wie es Helena geht. Um turnusmäßig zu
entscheiden, wie es mit Helena weitergeht. Weil ja alles so schön unter
gefühlt einem halben Dutzend Behörden aufgeteilt ist, müssen wir uns mit zwei Jugendämtern unterhalten: Ein örtliches, das offiziell für Erziehungsfragen und die Auszahlung der Kohle zuständig ist, und eins an
ihrem bisherigen Wohnort, das für die Kohle aufkommen muss, die Helena kostet.

Das Kosten tragende Jugendamt hat sie seit Monaten nicht mehr gesehen, und bisher sind auch wir immer dorthin gefahren. Heute sollte es anders sein: Eine Mitarbeiterin hatte sich angekündigt, Helena in ihrem häuslichen Umfeld zu besuchen und mit allen ein Gespräch führen zu
wollen. Marie hatte Dienst getauscht, Helena hat extra ihr Nachmittagsprogramm gecancelt, sogar Susi war extra für einen Kurzbesuch
von einer Stunde zwischen Vormittags- und Nachmittagssprechstunde angereist.

Ich erinnere mich noch an offizielle Anlässe während meiner Kindheit.
Auch noch an solche in Helenas Alter. Auch wenn wir nie Besuch vom Jugendamt bekamen. Ich musste vorher nochmal zum Friseur, Haare waschen und zusammenbinden, am liebsten flechten, Fingernägel schneiden, die besten Klamotten anziehen, am liebsten ein Kleid und polierte Schuhe, und dann: Schön artig sein! Es wirkt im Nachhinein für mich so, als wären meine Eltern nicht in der Lage gewesen, auf eventuelle Unpässlichkeiten angemessen zu reagieren. Vielleicht war es vor fünfzehn
Jahren aber auch einfach eine ganz andere Zeit. Ich wundere mich gerade
über mich selbst, diesen Satz zu verwenden.

„Die nehmen mich hier aber nicht wieder raus, oder?“ – Diese Frage hatte sie mir in den letzten drei Tagen schon fünf Mal gestellt. Und eigentlich hatten wir auch darüber gesprochen. Aber sie hat das Trauma noch lange nicht überwunden. Cool bleiben. „Ich wüsste nicht warum, Helena.“ – „Das ist wirklich nur ein Routine-Besuch, oder?“ – „Ja, Helena. Warum hast du denn plötzlich solche Angst? Hast du was angestellt?“ – „Nein, nichts Großes, aber es gibt bestimmt Dinge, die ihr nicht gut findet und einige Sachen habe ich ja auch falsch gemacht.“
– „Setz dich doch nicht so unter Druck, Helena. Es geht bei dem Termin nicht darum, zu petzen oder dich anzuklagen. Sondern darüber zu sprechen, ob es dir hier gut geht.“ – „Es geht mir gut. Es ging mir nie besser.“ – „Aber das wissen die doch nicht. Und du weißt doch selbst, dass es Pflegefamilien gibt, in denen es den Kindern nicht gut geht. Das
prüfen die immer mal wieder.“ – „Und warum haben die bei meiner letzten
Pflegefamilie nicht gesehen, dass es mir schlecht ging?“

In dem Moment klingelte es. Pünktlich, zwei Minuten zu früh. Susi öffnete die Tür. Die Mitarbeiterin, die herein kam, kannten wir schon vom letzten Termin auf dem Amt. Ich hatte sie als sehr freundlich in Erinnerung. Sie gab uns allen die Hand, dann setzten wir uns an den Esstisch. Helena war extremst aufgeregt. Rotes Gesicht, unruhige Hände, ängstlicher Blick. „Helena, ich bin gekommen, um mir einen Eindruck von deinen aktuellen Lebensverhältnissen zu machen. Du erinnerst dich vielleicht noch an mich von unserem letzten Gespräch. Wie geht es dir heute?“ – „Gut“, sagte Helena wie aus der Pistole geschossen. Ein Wort. Bloß nicht mehr. Die Mitarbeiterin erwiderte: „Ich muss sagen, du siehst
auch sehr gut aus und machst auf mich einen sehr positiven ersten Eindruck.“ – „Dann darf ich also weiter hier bleiben?“

Oh jee. Die Mitarbeiterin fing die Frage aber sehr gut auf: „Es geht heute nicht um Dürfen, Helena, sondern um Möchten. Du bestimmst ganz alleine für dich, ob du weiter hier bleiben möchtest.“ – „Ich möchte das
auf jeden Fall“, sagte sie sofort. Marie sagte: „Helena hat die ganz große Befürchtung, dass es heute erneut darum gehen könnte, eine neue Familie für sie zu finden. Sie ist die ganze Zeit schon extrem angespannt. Deshalb möchte sie gerade nicht so lange um den heißen Brei herumreden, sondern kommt direkt zur Sache.“ – „Marie!“, rief Helena. Ich nahm mir ihre schweißnasse Hand. Sie schüttelte mich weg. Die Mitarbeiterin sagte: „Also nochmal: Ich bin glücklich, wenn es dir gut geht. Von mir aus muss sich nichts ändern. Es sei denn, du möchtest das und bittest mich darum. Du weißt, dass du das jederzeit tun kannst, du hast von mir mal eine Karte mit meiner Nummer bekommen. Du kannst mich immer anrufen, wenn was ist, und du bekommst auch heute einmal die Chance, mit mir unter vier Augen zu sprechen. Aber ich bin heute nicht gekommen, um was zu ändern, sondern weil ich mir regelmäßig ein Bild davon machen muss, ob alles in Ordnung ist. Okay?“ – Helena nickte.

Sie holte einen Pappdeckel aus ihrer Handtasche, in dem einige Blätter lagen, nahm sich einen Kugelschreiber in die Hand, und fragte Helena: „Kannst du mir mal eine normale Woche beschreiben? Also was du so machst?“ – Helena beschrieb. In allen Einzelheiten. Die Mitarbeiterin
machte sich Notizen. Hakte nach. Ob Kiara ihre beste Freundin sei. Wieviele Freundinnen sie hätte. Ob sie erzählen möchte, mit wem sie gerade zusammen sei. So langsam entspannte sich Helena und plauderte. Schule war ein Thema. Sport war ein Thema. Ob sie beim Reiten immer eine
Kappe trage, wollte die Mitarbeiterin wissen. „Na klar, ich bin doch nicht lebensmüde“, erwiderte Helena beinahe entsetzt. Die Mitarbeiterin sagte: „Ich habe neulich ein Mädchen besucht, das zeigte mir einige Fotos vom Reiten, da war sie aber überall ohne Kappe drauf. Das fand ich
gar nicht gut.“

Das war das Stichwort. Helena stand auf, ging in ihr Zimmer und kam mit einem Tablet zurück. Fotos vom Reiten. Mit Kappe. Und vom Strand. Und vom Volksfest. Und von Susi und Otto aus dem Garten. Und von Maries Hund. Auf dem Bauch, auf dem Rücken, beim Laufen, springen, schlafen, Nahaufnahmen, Fernaufnahmen – kurzum: „Du magst den Hund sehr gerne, oder?“ – Von unserem Garten, von Katzenbabys am Pferdestall. Marie, Susi
und ich guckten uns an, wir kamen uns irgendwie überflüssig vor. Angenehm überflüssig. „Hast du Geheimnisse, die du zu Hause nicht erzählst?“ – Ganz plötzlich, ganz überraschend. Helena guckte die Mitarbeiterin an, guckte uns an, sagte dann: „Na klar! Und wissen Sie, was cool ist? Ich werde nicht erpresst deshalb.“ – „Was meinst du mit ‚erpresst‘?“ – „Na, so lange unter Druck setzen, bis ich das sage“, sagte sie. Und fügte leise hinzu: „So wie das früher war.“

„Kennst du den Unterschied zwischen guten und schlechten Geheimnissen?“, fragte sie weiter. Helena antwortete erstaunlich erwachsen: „Sie brauchen sich da gar nicht solche Mühe zu geben. Ich habe im Moment kein Geheimnis, was ich nicht schon erzählt habe oder was
wirklich eins ist. Jule hat gesagt, dass es ein Unterschied ist, ob ich
richtig etwas mit aller Kraft in mir einschließe, oder ob ich nur nicht
ständig drüber quatsche.“ – „Was ist denn der Unterschied?“ – „Also ein
großes Geheimnis darf wirklich niemand erfahren. Und das andere ist so:
Ich hatte heute morgen einen fetten Pickel im Gesicht, den ich ausgedrückt habe bis der platzte und es blutete, aber das erzähle ich einfach nicht jedem, weil es eklig und peinlich ist. Aber wenn jetzt jemand fragt, mache ich da kein Geheimnis draus, sondern erzähle das. Worüber ich zum Beispiel gar nicht rede, ist das, was wir in der Therapie besprechen. Das bleibt dort im Raum und das ist mir sehr wichtig. Aber das ist kein Geheimnis, weil ich es ja nicht für mich behalte, sondern weil ich darüber im Moment nur während der Therapie reden möchte.

„Wie groß ist deine Privatsphäre?“ – „Ist das das mit dem Alleinesein? Also ich kann das Bad abschließen und an meiner Zimmertür ist so ein Rahmen, wo man Zettel reinschieben kann. Da kann ich dann drauf schreiben, dass ich nicht gestört werden will.“ – „Und das klappt?“ – „Naja, wenn Jule sich Sorgen macht, klopft sie. Dann ruf ich ‚Stop‘ und dann weiß sie, dass sie nicht reinkommen darf und dass ich aber noch lebe.“ – Ich ergänzte: „Wir haben wegen des Diabetes die Abmachung, dass die Zimmertür nicht abgeschlossen wird, dass aber das Schild an der Tür von uns allen beachtet wird und bei geschlossener Tür sowieso immer ein ‚Ja‘ abgewartet wird. Das gilt übrigens auch, wenn Helena eine Tür öffnen will.“

Helena ergänzte: „Aber meine Tür hat trotzdem einen Schlüssel. Nur den nehme ich nicht.“ – „Zu wem gehst du, wenn du nachts schlecht geträumt oder zum Beispiel Bauchschmerzen hast?“ – „Also zum Glück träume ich nicht so häufig schlecht, und wenn, dann muss ich überlegen, ob ich mich nicht lieber unter meiner Bettdecke verkrieche oder erstmal Licht anmache. Aber wenn ich nachts Angst habe oder so, dann gehe ich manchmal zu Jule und manchmal zu Marie. Meistens aber zu Jule, weil sie ein Wasserbett hat, und das ist ganz flauschig und warm.“ – „Du schläfst
dann bei Jule im Bett?“ – „Dafür bin ich eigentlich zu alt, oder?“ – „Nein, das hängt nicht vom Alter ab. Wenn du Wärme und Nähe brauchst und
sie bekommen kannst, dann darfst du sie dir auch nehmen. Wichtig ist nur, dass das bei Wärme und Nähe bleibt. Verstehst du, was ich meine?“ –
„Also manchmal kämpfen wir auch im Bett. Aber nur aus Spaß. Und ich bin
meistens stärker. Oder wir quatschen noch im Dunkeln.“ – „Das ist auch okay.“ – Ich griff in das Gespräch ein, da Helena nicht verstand, was die Mitarbeiterin sagen wollte: „Wir schlafen alle angezogen.“

Darauf sagte Helena natürlich: „Nee, manchmal schlafe ich aber auch ganz nackt. Und seit ich hier mein eigenes Zimmer habe, darf ich das auch offiziell. Oder Marie?“ – „Aber nicht bei mir im Bett“, ergänzte ich. – „Nee, das stimmt. Achso, jetzt verstehe ich! Igitt, nee, ich fang
doch nicht mit Jule oder Marie was an! Die wären mir doch viel zu alt dafür. Das ist eklig.“

Dann hätten wir das ja auch geklärt. Anschließend kam noch eine Suggestivfrage, wie Helena mit meinem Freund zurecht käme. Dabei habe ich gar keinen Freund. Und die Frage, ob Marie oder ich schonmal Helenas
Handy durchsucht haben, fand ich, nachdem wir an der Zimmertür anklopfen, auch überflüssig. Ohne Anlass gibt es auch keine Handy-Durchsuchung. Zumal sie ganz häufig mir auch ihr entsperrtes Handy
hinhält mit aufgeklapptem Fotoalbum, und dann sind da 50 Bilder drauf, Pferde in allen Lebenslagen, die ich mir anschauen soll, weil die ja so süß sind. Und ich als (ehemalige) Pferdenarrin kann sie natürlich gut verstehen.

Ansonsten hoffen wir ein Stück weit darauf, dass „das“ gut geht. Sie hat noch keinen Datentarif außerhalb, kann also nur im WLAN ins Internet. Was in der Schule vorhanden ist, mit Jugendfilter. Zu Hause hat sie ebenfalls ihr eigenes WLAN-Netz, mit Jugendfilter und wochentags
ist abends um 21 Uhr Feierabend, am Freitag und am Samstag ist ihr WLAN
um 23 Uhr aus. Beschützen können wir sie nicht vor den bösen Seiten der
Medien, und sie erzählte mir neulich bereits: „Jule, die Jungs in meiner Klasse schicken sich die ganze Zeit eklige Sachen hin und her. Nackte Frauen, die ihren nackten Po in die Kamera halten und dann damit wackeln, und …“ – Ich führe das hier nicht weiter aus, sondern nenne nur
das Stichwort, aus Gründen: Bu**ake. Aber es ist ja demnächst Elternabend. Wo es zur Sprache kommen wird, nur vermutlich nichts ändert.

Das thematisierte Helena zum Glück nicht. Genauso wie die unentschuldigten Fehlstunden. Nicht, dass ich das nicht besprochen hätte, aber so war es natürlich einfacher. Die Mitarbeiterin redete mit Marie und mir kurz, und war erstaunt, dass wir auch nach drei Nachfragen
noch darauf beharrten, dass Helena noch nie richtig genervt hat. Sie redete auch kurz mit Helena alleine, aber das war auch nach drei Minuten
wieder vorbei.

Am Ende war die Mitarbeiterin glücklich und zufrieden. Sie habe ein sehr positives Gesamtbild aufgenommen. Als sie draußen war, fiel Helena erst Marie, dann mir um den Hals und knutschte uns ab. Es war deutlich zu spüren, dass ihr ein großer Stein vom Herzen gefallen war.

Ab morgen bin ich wieder gesund genug für die Frühschicht. Also nix mit Tanzen in den Mai. Schlafen in den Mai. Und dann um Fünf aus den Federn. Hurra.

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