Elternschule

Ich bin total verstört. Ich beginne jetzt zum vierten Mal diesen Beitrag. Ich habe das Bedürfnis, mir ein eigenes Bild zu machen, bevor ich mir ein Urteil bilde. Und ich wollte ein eigenes Urteil, nachdem ich -nahezu unfreiwillig- so viel Kritik über den Film „Elternschule“ gelesen habe. Der Film ist noch für rund eine Woche in der ARD-Mediathek
aufrufbar.

Ich muss sagen, dass ich den Film am Ende trotzdem nicht gesehen habe. Ich habe drei, vier Mal abgebrochen und wieder begonnen, nach insgesamt zehn Minuten aber das Browserfenster geschlossen. Und mich endgültig entschieden: Das will ich nicht sehen. Nennt mich sensibel, nennt mich unerfahren – ich fühle mich überfordert. Mit dem, was da abgeht.

Und damit meine ich nicht die kleinen Kröten, die da ihre Grenzen austesten. Und ja, den Ansatz, Grenzen zu setzen, teile ich. Nicht nur gegenüber Kindern, sondern gegenüber allen Menschen muss ich Grenzen setzen. Das ist alltäglich. Ich möchte gar nicht weiter auf die dort geschilderten Probleme eingehen. Das kann ich nicht. Mir fehlt die fachliche Kompetenz einerseits, andererseits habe ich den Film ja auch überwiegend nicht gesehen. Sondern nur einzelne Ausschnitte.

Was ich aber gesehen habe, hat mir gereicht. Und ich möchte nur eine Sache aufgreifen: Körperliche  Untersuchung schreiender Kinder. Ich glaube, Tausend waren es noch nicht. Aber über 500 Kinder hatten schon mit mir zu tun in den letzten Jahren. Ja, es waren viele dazwischen, die geweint haben, geschrien, gekreischt, gebrüllt. Die Schmerzen hatten, überfordert waren, die ausgelaugt waren, hohes Fieber hatten.

Ich stehe, im Gegensatz zu der im Film gezeigten Aufnahme-Untersuchung, unter großem Zeitdruck. Immer. Nicht, weil mein Arbeitgeber mit der Stoppuhr hinter mir steht, sondern weil an vielen anderen Stellen ebenfalls Patienten auf mich warten und es viel zu wenig ärztliches Personal gibt. Ich kann mich mit einem Patienten, der nicht vital bedroht ist, keine Viertelstunde aufhalten. Die Situation ist zudem bescheuert, weil mein Gegenüber oft einfach Angst hat. Neben der akuten Symptomatik. Und oft verzahnen und potenzieren sich Zeitdruck, Angst und akutes Problem auch noch.

Es gibt Situationen, da ist das körperliche Unwohlsein so groß, dass ich ein schreiendes Kind untersuchen und behandeln muss. Es ist noch keine Woche her, da war ein drei Jahre altes Kleinkind mit einem Wespenstich etwa zwei Zentimeter unterhalb des Auges bei mir in der Aufnahme. Das Kind reagierte zudem allergisch auf das Wespengift-Protein. Nicht dramatisch, aber schon am ganzen Körper sichtbar. Das ist ein Notfall, da kann ich dann auch nicht erst lange irgendwelche Spielchen veranstalten, sondern muss handeln. Auch wenn es noch so laut brüllt und nicht versteht, warum gerade alles so ätzend ist.

Aber: Wenn ich beim Kind eine orientierende Aufnahme-Untersuchung machen muss, dann habe ich noch nie, wirklich noch nie, ein schreiendes Kind untersucht. Das fängt schon damit an, wie ich in den Raum hinein komme. Wenn ich draußen schon höre, dass das Kind überfordert ist, poltere ich da nicht unberechenbar rein, unterschreite sofort körperliche Distanzen, rede laut und reiße dabei noch ein paar dominante und markige Sprüche, sondern dann bleibe ich erstmal vor der Tür stehen. Schiebe sie dreißig Zentimeter auf und schaue erstmal vorsichtig
hinein. Nehme Blickkontakt auf. Lächle. Winke. Nehme den großen Ernst aus der Situation. Oft reicht es schon, die Aufmerksamkeit auf irgendwas anderes zu lenken. Die meisten Kinder sind neugierig. Und wenn wir uns erstmal beschnuppern, bevor ich dem Kind mit der Lampe ins Ohr leuchte, gewinne ich Vertrauen und anschließend halten mir über 90% der Kinder ihr Ohr freiwillig hin. Die Minute, die ich dafür investiere, hole ich hinterher drei Mal wieder raus.

Kürzlich war ein fünfjähriges Mädchen mit mehreren fiesen Splittern im Fuß da. Ich sag nur: Auf eine nasse Holzpalette am Strand gesprungen.
Es blutete und es tat wirklich doll weh. Ich rollte nach dem Hinweis, das Mädchen lasse sich am Fuß nicht anfassen, nicht mal von der Mutter, in das Zimmer. Es brüllte und kreischte bei Mama auf dem Arm. Ich will hier keine tollen Geschichten erzählen, aber nach zwanzig Minuten waren alle sechs Splitter draußen. Und das Kind saß -zwar extrem skeptisch, aber dennoch aus eigener Entscheidung- auf der Untersuchungsbank und hat
mir den Fuß unter meine Nase gehalten. Der alles entscheidende Deal nach einer vorsichtigen ersten Inspektion (Deal: Meine Hände bleiben beim Anschauen auf meinem Schoß, ich gucke nur mit den Augen und fass dich nicht an) war: „Wenn du möchtest, dass ich aufhöre, rufst du Stopp. Dann höre ich sofort auf. Versprochen. Du bist die Chefin.“ – Sowas ist kein Hexenwerk. Das läuft über Vertrauen.

Wenn ich in dem Film, den ich nur für wenige Minuten gesehen habe, die Aufnahmeuntersuchung miterlebe, kann ich nur mit dem Kopf schütteln.
Ein Kind so distanziert zu behandeln, käme mir nie in den Sinn. So etwas will ich nicht sehen. Das widert mich an.


Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert