Nochmal Openwater

Nachdem mir der Fünf-Kilometer-Wettkampf vor vier Wochen so gut gefallen hat, war es klar, dass ich zustimmen würde, dieses Mal sogar sofort, als Christin mich in der letzten Woche fragte, ob ich sie noch einmal begleiten würde. Wieder Ausland, dieses Mal anderes Land, wieder nur wenige Autostunden von meinem derzeitigen Wohnort entfernt. Wieder in einem Binnensee, wieder über zwei Tage, wieder mit unterschiedlichen Wettkämpfen für Schüler und Erwachsene.

Wir wollten direkt nach meinem Dienst losfahren. Ich hatte angeboten, Christin von Zuhause abzuholen. Plötzlich, ich schrieb gerade einige Berichte an meinem Arbeitsplatz, klingelte mein Telefon in der Hemdtasche. „Hier ist eine junge Frau. Sie möchte direkt zu dir.“ – „Name?“ – „Christin […]“ – „Kannst du schicken.“

Eine halbe Minute später klopfte es an meiner Tür. Als Christin vorsichtig ihren Kopf durch die Tür steckte, konnte ich mir nicht verkneifen, sie so zu begrüßen, wie sie es immer macht, wenn ich in der Schwimmhalle darauf angewiesen bin, dass mir jemand den Nebeneingang öffnet. „Tschuldigung, haben Sie sich in der Tür geirrt? Das hier ist die Kinderstation.“ – Christin antwortete schlagfertig: „Bin noch ein Baby und möchte mir einen Schnuller abholen. Außerdem habe ich gerade meine Dreimonatsblähungen, wollen Sie mal hören?“

Sie kam hinein, setzte sich auf einen freien Stuhl und meinte: „Hier arbeitest du also. Und so siehst du aus, wenn du arbeitest.“ – „Ja. So sehe ich aus.“ – „Warum hast du kein Stethoskop um den Hals? Ich habe das immer für ein Erkennungszeichen gehalten.“ – „Das brauche ich zum Briefe tippen nicht. Das liegt hier.“ – „Warum hast du keinen weißen Kittel an?“ – „Das ist kein Kittel, sondern ein Mantel.“ – „Wie, der Kittel ist ein Mantel?“ – „Genau. Ich darf aber statt des weißen Mantels auch nur weiße Jeans und weißen Kasack tragen.“ – „Was ist ein Kasack?“
– „Das ist ein hüftlanges Hemd mit überlappendem V-Ausschnitt, das man sich über den Kopf zieht.“ – „Und das jetzt?“ – „Das sind eine blaue Hose und ein blaues Schlupfhemd.“ – „Hast du einen BH drunter?“ – „Willst du nachgucken?“

„Später. Und wieso steht hier keine Liege drin?“ – „Weil das hier ein Rückzugs- und Schreibraum ist und kein Untersuchungsraum. Hier kommen keine Patienten rein.“ – „Hast du Drogen hier?“ – „Hier nicht, aber im Stationszimmer ist ein Giftschrank.“ – „Ist da Marihuana drin?“ – „Nö. Brauchst du welches?“ – „Nee, ich bin Sportlerin und will morgen starten und da bestimmt keine Dopingsperre bekommen. Aber ich würde gerne mal sehen, wie sowas aussieht. Also in echt. Hast du schonmal einen Joint geraucht?“ – „Nee. Und das möchte ich auch nicht. Drück mal bitte die Daumen, dass das hier heute ohne größere Katastrophen vorüber geht, damit wir pünktlich loskommen. Wieso bist du eigentlich hierher gekommen? Ich hätte dich doch abgeholt?“ – „Naja, wäre halt eine Stunde Umweg gewesen für dich und ein paar Busse fahren doch.“

Nachdem Christins erste Neugier gestillt war und die letzte Stunde meines Dienstes ohne größere Katastrophen vorüber ging, saßen wir pünktlich im Auto. Kamen sehr gut durch und waren nach einigen Stunden trotz Geschwindkeitsbeschränkungen und Sommerreiseverkehr sehr schnell dort, wo wir hin wollten. Zelt aufbauen, den Kompressor das Luftbett aufblasen lassen, schnell noch eine Kleinigkeit essen, in einem Waschhaus, sogar mit Klappsitz an der Wand für Menschen mit Behinderung, duschen, Zähne putzen, ab in die Falle. Wir zwei unter einen aufgefalteten Schlafsack, wegen der Wärme, vielleicht auch aus anderen Gründen, unbekleidet. Christin: „Ich hab mich schon seit Tagen darauf gefreut, mit dir zu schmusen. Du bist so sanft und so zärtlich.“

Oha. Was für Komplimente. Nein, es gab wieder einfach nur Hautkontakt. Ein wenig den Rücken streicheln, eng aneinander liegen. Kein Knutschen, keine Intimitäten. Wobei ich das schon sehr intim finde. Aber ich könnte mir natürlich noch sehr viel mehr vorstellen. Und ehrlicherweise auch mit ihr. Aber ich bin da zurückhaltend. Ich stimme zu, aber ich fordere es nicht heraus. Es ist sehr schön mit ihr und es macht sehr viel Spaß. Vor allem ihre Unbefangenheit finde ich sehr erfrischend. Manchmal benehmen wir uns wie Kinder.

Zum Beispiel wachte ich mitten in der Nacht auf. Zum Glück. Das, was ich zum Abendessen getrunken hatte, wollte raus. Das ist der Nachteil beim Zelten: Zu Hause wäre ich jetzt vom Bett schnell in meinen Stuhl rübergerutscht und zum Klo gerollt. Das kann ich auch im Dunkeln. Hier müsste ich vom Fast-Boden nach oben. Zum Waschhaus. Mir vorher was anziehen. Bis das alles so weit ist, hat meine autonome Querschnitt-Blase schon ihre Geduld verloren. Irgendein Gefäß würde ich im Dunkeln sicherlich auch nicht treffen. Also Pampers anziehen und hoffen, dass Christin mich morgen früh nicht allzu eklig findet. Wobei ich sie ja inzwischen etwas besser einschätzen kann und die Sorge wohl unbegründet ist. Während ich in meiner Tasche wühlte, flüsterte sie: „Was rödelst du denn da rum?“ – „Ich muss dringendst pissen“, flüsterte ich zurück. Sie stand schlagartig auf und wollte mich hochheben. „Ich trag dich.“ – „Nackt oder was?“ – „In die Sauna gehst du doch auch nackt. Ich dachte, es wäre dringend.“ – „Ja, aber ich gehe doch nicht nackt in das beleuchtete Waschhaus!“ – „Quatsch, nächste Hecke!“ – „Wenn das einer sieht.“ – „Wenn du die Klappe hältst, bestimmt nicht. Die pennen alle. Wehe, du furzt dabei laut.“

Es dürfen mich gerne tausende Leserinnen und Leser für bescheuert halten und die Szene total verstörend, aber das war ein Spaß! Christin hat mich unter meinen Kniekehlen vor sich hergetragen, wie man ein kleines Mädchen in freier Natur abhalten würde, bis zu einer Hecke. Es fehlte nur, das gleich ein Platzwart mit einer Taschenlampe irgendwo um die Ecke biegt und uns in die Augen leuchtet. Ich hatte dermaßen Herzklopfen, dass uns hier jemand sehen oder beobachten würde. Es war zwar stockdunkel, aber eben auch total still. Man hörte jeden Schritt auf dem Gras. Christin stach der Hafer, sie schwenkte mich hin und her wie eine Gießkanne, mit der jemand ein Beet bewässern wollte. „Merkst du das eigentlich, wenn ich deinen Arsch durch die Brennesseln schwenke?“,
flüsterte sie mit gepresster Stimme, ihr Lachen unterdrückend. Ich flüsterte: „Merken nicht, aber die Hautreaktion wäre die gleiche. Also lass es!“

Ich war so erleichtert und glücklich, als wir wieder unter dem Schlafsack lagen. Am nächsten Morgen war zuerst unser Check-In angesagt.
Wir mussten unsere Unterlagen abholen und im Internet ein Video anschauen, mit dem wir instruiert werden sollten. Hier fiel die Begrüßung weniger herzlich aus als beim vorherigen Wettkampf. Was mir nicht schlechter gefiel, denn eigentlich mag ich keine Sonderrollen. Auch wenn ich erneut die einzige Rollstuhlfahrerin war. Aber es gebe noch einen älteren Herrn mit einem im Oberschenkel amputierten Bein, sagte man uns. Der schwimme schon seit Jahren mit. Persönliches Begleitkajak sei hier übrigens nicht zugelassen. Allgemein wären Rettungsschwimmer im Kajak dabei, aber persönliche Assistenz sei nicht möglich. Das würde ich aber so überleben, davon war ich überzeugt.

Am Samstagmorgen war Christin dran. Das Teilnehmerfeld war nicht allzu groß, lediglich acht Frauen wollten die zehn Kilometer lange Strecke schwimmen. Christin kam nach zwei Stunden und knapp fünfzehn Minuten als erste an. Damit hatte ich nicht gerechnet. Die nächste Frau war rund zehn Sekunden hinter ihr. Wahnsinn. Ich habe fast geheult, als ich die beiden gegeneinander kämpfen sah und sich immer mehr abzeichnete, das Christin vorne sein würde. Keine Ahnung, woher sie nach
zwei Stunden die Energie nahm, noch einen Sprint einzulegen. Aber am Ende hat sie sich belohnt.

Mein Start war am frühen Nachmittag. Christins weiche Knie hatten sich inzwischen einigermaßen erholt. Ich lag im Zelt auf dem Luftbett, wir zogen mir zusammen ihren Schwimmanzug an. Wenn ich das öfter machen sollte, würde ich mir selbst so ein Teil für 300 Euro und mehr kaufen. Jetzt, für den zweiten Wettkampf, wollte sie mir ihren alten Wettkampfanzug, den sie nur noch als Ersatz dabei hat, erneut leihen. Und ich hatte das Glück, das unsere Körpergröße und auch unser Körperbau relativ gleich ist. Wenn man von meinen etwas dünneren Beinen mal absieht, aber sie sind immerhin noch dick genug, dass sie die langen Beine des Anzugs ohne Falten ausfüllen. Nach zwanzig Minuten hatte ich das Ding an. Vielleicht würden wir das auch in 15 Minuten hinbekommen, aber das Ding sitzt so eng, dass man bloß nicht ins Schwitzen kommen sollte. Dann geht nämlich gar nichts mehr.

Das Briefing hatten wir ja schon per Onlinevideo bekommen, von daher konnten wir uns eine lange Warterei im aufgeheizten Großraumzelt sparen und gleich auf den Steg. Christin cremte mich zum letzten Mal fett mit Sonnenmilch ein. Und mit Vaseline an jenen Stellen, an denen der Anzug scheuern könnte und die Haut sich die ganze Zeit bewegt. Badekappe und Brille vernünftig festgeklebt, drei Trinkbeutel hinten in den Anzug gesteckt, am liebsten wäre ich mich nochmal etwas eingeschwommen, nur wäre ich nie im Leben vom Wasser aus wieder auf den Steg gekommen. Nur mit einem riesigen Umweg über Land.

Als endlich gestartet war, dachte ich mir: Nee, oder? Worauf hast du dich da jetzt nochmal eingelassen? Zwei Stunden schwimmst du jetzt durch diesen See. Und dieses Mal zeigte sich gleich am Anfang, dass die elf Frauen, die gegen mich antreten würden, schneller sein werden als ich. Erheblich viel schneller. Aber das war mir egal. Ich hing meinen Gedanken nach und schwamm einfach. Irgendwo tuckerte ein Motorboot vor mir her. Jedes Mal, wenn ich einatmen wollte, atmete ich Abgase ein. Das war sehr lästig. Aber auch schnell wieder vorbei. Ich schwamm. Und schwamm. Und schwamm.

Ein Begleitkajakfahrer interessierte sich für mich und blieb auf meiner Höhe. Irgendwann war er wieder weg. Es passierte rein gar nichts. Außer dass ich schwamm. Nach einem Kilometer kam die erste Boje. Oder vielmehr eine etwas größere aufgeblasene Tüte, die auf dem Wasser hin und her schaukelte. Mir ging es gut. Mein Tempo hatte ich richtig gewählt, ich konnte gut atmen, die Wassertemperatur war okay. Plötzlich war die zweite Boje da. Ich hatte sie zwar angeschwommen und immer mal wieder nach ihr geschaut, aber dann war sie sehr überraschend dichter gekommen. Noch fünfhundert Meter bis zur Wasserstation. Sollte ich schonmal was trinken? Das Bedürfnis hatte ich nicht.

Als ich an dem Schwimmsteg in der Nähe des Ufers ankam, fragte mich jemand: „Warm oder kalt?“ – „Kalt!“ – „Große oder kleine Flasche?“ – „Große!“ – Ich bekam eine 750-Milliliter-Wasserflasche mit einem Sportdeckel drauf, wie man sie auch in einem berühmten Discounter bekommt, angereicht. Ich drehte mich auf den Rücken, legte meinen Kopf waagerecht hinein, ließ mich treiben und nuckelte an dieser Flasche. Ich hatte doch ziemlichen Durst. Knapp einen halben Liter soff ich aus, das restliche frische Wasser spritzte ich mir über mein Gesicht, um mal etwas anderes wahrzunehmen als immer nur Seewasser und um einmal kurz etwas sauberes Wasser ins Gesicht zu bekommen. Dann warf ich die Flasche in Richtung des Stegs und schwamm weiter.

An der nächsten Boje hatte ich zum ersten Mal das Bedürfnis, etwas zuckerhaltiges zu mir zu nehmen. Ich griff nach einem Trinkbeutel und schüttete dessen Inhalt in mich hinein. „Bitte ohne spucken dieses Mal“, dachte ich mir. Klappte. Ich bildete mir ein, die Wirkung des eingeflösten Zuckers in den Muskeln merken zu können. Kurz vor der vierten Boje schüttete ich noch einmal den Inhalt eines Trinkbeutels in mich hinein. Wieder glaubte ich, einen kleinen Energieschub wahrnehmen zu können. Es schwamm sich besser als ich erhofft hatte und ich hatte auch nach vier Kilometern keine nennenswerten Probleme. Ich musste nicht spucken, wie beim letzten Mal, meine Blase spielte nicht verrückt, wie beim letzten Mal, ich verschluckte mich nicht in einer Tour, wie beim letzten Mal, sondern ich hatte das Gefühl, dass ich auch noch einen sechsten Kilometer schaffen würde. Allerdings war keine schnellere Geschwindigkeit drin. Und ich schätze, dass ich einen sechsten Kilomter zumindest anteilig geschwommen bin, denn zuletzt kam mir der Wind entgegen.

Nach zwei Stunden und 21 Minuten schlug ich an. Deutlich langsamer als beim letzten Mal. Aber dafür war mein Kreislauf wesentlich fitter. Ich schwamm in einen flacheren Bereich. Erst jetzt merkte ich, dass eine
ganze Traube von Zuschauern mir applaudierte. Und erst jetzt erfuhr ich, dass diejenige, die zuletzt vor mir ins Ziel kam, schon seit einer Dreiviertelstunde da war. Aber ankommen ist alles.

Ich schwamm vorsichtig zu einer Stelle, an der das Wasser so flach war, dass ich mit dem Po auf den Grund sitzen konnte, während mein Kopf noch über Wasser war. Christin hatte Shorts und Shirt an und kam in meine Nähe, bis sie bis zu den Knien im Wasser war. „Ich weiß nicht, wieviele spitze Steine hier im flachen Wasser sind. Oder Scherben. Ich würde dich gleich auf den Arm nehmen. Sag du mir Bescheid, wann wir loslegen können.“ – „Bescheid.“

Als ich im Stuhl saß, begannen meine Beine zu zittern. Ihnen fehlte mal wieder der Nervenimpuls. Einige der umstehenden Leute guckten etwas sparsam aus der Wäsche. Was ich etwas doof fand: Die Siegerehrung für „meinen“ Wettkampf war bereits gelaufen. Ich meine: Einerseits ist klar, dass man nicht auf mich warten möchte, zumal ich als Letzte ja nicht aufs Treppchen komme. Aber andererseits kenne ich das nicht, dass man eine Siegerehrung durchführt, während der Wettkampf noch läuft. Aber egal. Ich hängte mir ein Handtuch um, Christin schob mich zu unserem Campingplatz, ich duschte mir dort Vaseline und grünes Seewasser ab und befand: Das war nicht die letzte lange Strecke. In diesem Sommer vielleicht. Aber in diesem Leben sicher nicht.


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