Nächtlicher Besuch

Da liege ich abends um 22 Uhr in meinem flauschigen Bett, habe das Licht ausgeschossen und höre keine Musik mehr, weil ich nach anstrengender Arbeit einfach nur noch schlafen möchte, als draußen im Garten Licht angeht. Da ich das Fenster gekippt habe und die Rolläden nicht ganz geschlossen, damit ich nachts beim Schlafen mit meinem hohen Sauerstoffbedarf keinen Unterdruck erzeuge, kann ich das sehen. Ich vermute eine Katze oder irgend ein anderes Tier, das durch einen Bewegungsmelder gelaufen ist.

Eine Minute später ist das Licht wieder aus. Hätte ich schon geschlafen, hätte ich das gar nicht mitbekommen. Doch dann: Erneut geht das Licht an. Zweite Katze? Kloppen die sich gleich noch im Garten mit lautem Geschrei? Da es bei uns nachts sehr still ist, höre ich, wenn ich die Ohren spitze, sehr viele Geräusche. Quakende Frösche, zirpende Grillen, alles sowas. Jetzt glaubte ich, Schritte zu hören. Ich hielt die Luft an, damit ich das besser hören konnte. Wirklich Schritte?

Paranoia. Keine Schritte. Oder? Das Licht ging wieder aus. Dann klapperte ein Rolladen. Mir stockte der Atem. Jemand tippte mit seinen Fingernägeln ganz sanft gegen das Fensterglas. Spooky! Erlaubte sich hier jemand von meinen Freunden einen blöden Scherz? Oder ist es irgendein Psycho, der meinen Blog gelesen, meine Adresse herausgefunden hat und mich jetzt mal live erleben oder vielleicht gleich vergewaltigen will? Auf dem Rollstuhl neben meinem Bett lag mein Handy. Ich griff es im Dunkeln, zog es in mein Bett, zog die Bettdecke über den Kopf und versuchte die App zu öffnen, mit der ich die Überwachungskamera im Garten sehen kann. Es lud und lud, dann: Da stand tatsächlich jemand vor dem Fenster.

Inzwischen war die Beleuchtung wieder aus, so dass ich keine eindeutigen Details erkennen konnte. Meine Oma hat früher immer gesagt: „Wenn jemand hinten rein will, flüchte nach vorne!“ – Und ich glaube nicht, dass sie irgendetwas doppeldeutig gemeint hat. Also raus aus dem Zimmer und die Polizei rufen? Nur: Bis die hier ist, wäre wohl alles vorbei. Nachts ist die Station im Ort nicht besetzt, die zuständige Stelle über zwanzig Kilometer entfernt. Mit Chance wäre ein Fahrzeug in der Nähe und könnte sofort losfahren. Maries Hund ist auch nicht vor Ort, Schusswaffen habe ich keine im Haus (geschweige denn, dass ich damit umgehen könnte oder können möchte). Wenn ich jetzt die Rolläden ganz runter mache und das Fenster schließe, wäre erstmal etwas mehr Sicherheit da und derjenige wüsste, dass jemand zu Hause ist. Wenn er aber wirklich rein will…

„Jule?“, flüsterte draußen jemand. Das war eine weibliche Stimme. Wer schleicht nachts unangemeldet durch den Garten? Meine Mutter? Hatte sie meine Adresse herausgefunden und stalkt mich wieder? Die Stimme sagte erneut, nur dieses Mal etwas lauter: „Jule?!“ – Jetzt erkannte ich die Stimme. Es war Christin. Ich öffnete den Rolladen und das Fenster weit. Sie fragte: „Darf ich rein?“ – „Wie bitte?“ – „Ich möchte zu dir ins Bett. Ich vermisse dich total und habe totalen Entzug.“ – „Ich habe mich tierisch erschreckt! Warum meldest du dich denn nicht vorher? Ich hätte fast die Polizei gerufen!“ – „Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten und wollte unbedingt zu dir. Und weil es schon etwas später war, wollte ich [Helena] nicht aufwecken, wenn ich jetzt noch klingel. Kuscheln wir ein wenig?“

„Nein“, sagte ich mit ernster Miene. Sie guckte mich mit großen Augen wie versteinert an. Das hatte sie wohl nicht erwartet. Und vermutlich rechnete sie mit allem, nur nicht mit einer Offensive. Ich löste die Situation schnell auf: „Ein wenig reicht mir nicht. Ich möchte mehr.“

Christin kletterte durch mein Schlafzimmerfenster hinein. Wenn das jemand von außen beobachtet, würde er sich vermutlich auch alles Mögliche denken. Hoffentlich, so dachte ich, denkt sich nur keiner, hier wären Einbrecher am Werk. Ich schrieb Marie eine Nachricht, dass ich überraschend noch Besuch bekommen hätte, und hängte für Helena einen Bitte-nicht-Stören-Zettel an die Tür, damit sie bei Bedarf zu Marie ginge, bevor ich meine Schlafzimmertür abschloss. „Ich habe noch nie in einem Wasserbett gepennt“, sagte sie. Ich antwortete: „Wieso pennen, ich dachte, du willst kuscheln?“

Um es kurz zu machen: Am Ende haben wir gekuschelt. Ich habe eine Schulter-Nacken-Rücken-Massage bekommen, ich habe ihr den Bauch gekrault. Mehr ist nicht gelaufen: Kein Sex, kein Knutschen, keine intimen Berührungen. Auch wenn wir nackt waren und es für den einen Leser oder für die andere Leserin möglicherweise nahe liegt. Irgendwann sind wir beide eingeschlafen. Es war alles sehr schön und ich habe auch nichts vermisst. Am Morgen ist Christin noch vor dem Duschen und vor dem Frühstück wieder abgezischt. Ich musste sehr früh raus, und liegen bleiben wollte sie nicht. Verständlichweise – vor dem Kennenlernen der Anderen hätte ich das vermutlich auch nicht gemacht an ihrer Stelle.

Auch wenn ich solche Überraschungen, bei denen jemand durch meinen Garten schleicht, überhaupt nicht mag, habe ich mich sehr über diesen spontanen Besuch gefreut.


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